Ha Jin: "Ein schlechter Scherz"
Erzählungen
Kein Zweifel: keine einzige der zwölf Geschichten wird den Leser langweilen. Wer
Ha Jin aufgrund seines Romans "Warten" und noch mehr der
Novelle
"Im Teich" kennen und schätzen gelernt hat, wird in den kürzeren Prosaarbeiten
all das wiederfinden, was ihn dort in den Bann gezogen hat: die kompromisslose
Anprangerung der kommunistischen Behörden- und Parteiwillkür ("Der Saboteur";
"Der Bräutigam"), den hemmungslosen Opportunismus und Egoismus aller Gesellschaftskreise
("Gebrochen"; "Geschichte eines Unternehmers", die alle Schichten durchtränkende
Korruption ("Die Flamme"; "Ein offizielles Antwortschreiben") - und noch viel
mehr, auch ganz neue Töne wie in der turbulenten Groteske "Tigerbezwinger dringend
gesucht" oder in der anrührenden Schilderung eines alltäglichen Unrechts aus der
Perspektive eines Mädchens im zarten Kindergartenalter ("Im Kindergarten").
Neu
sind auch die Begegnungen einiger vom Sozialismus geprägter Menschen mit dem Klassenfeind
USA in den letzten drei Erzählungen, in denen der ideologische Kampf nur deswegen
nicht von vornherein zu Gunsten des Kapitalismus ausgeht, weil so niedere Instinkte
wie Missgunst und Gewinngier, Rachsucht und Bereitschaft zur Denunziation sich
im Kommunismus noch prächtiger entfalten konnten.
Die bunte thematische Mischung
mit der einheitlichen Tendenz, die Fehlentwicklungen des Kommunismus zu entlarven,
halten das Leserinteresse von der ersten bis zur letzten Geschichte wach, dennoch
stellt man sich am Ende die Frage: Steht es einem bereits 1985 in die USA emigrierten
Chinesen an, ein so durch und durch negatives Bild eines Massenvolkes, einer komplexen
Übergangsgesellschaft, belastet mit historisch bedingten Problemen, in der Welt
zu verbreiten? Möglicherweise sogar mit einem klammheimlichen Überlegenheitsanspruch?
"Beim Anblick meiner Lohntüte mit den monatlichen 468 Yuan wurde mein Vater ganz
melancholisch. Er hatte an diesem Abend ein wenig zu tief ins Glas geschaut und
triefte vor Selbstmitleid ... 'Hongwen, mein Leben lang habe ich der Revolution
gedient und bekomme dafür ganze dreihundert Yuan im Monat. Und du, der gerade
erst zu arbeiten begonnen hat, kriegst schon ein so hohes Gehalt. Da fühlt man
sich doch verarscht, verarscht von der Kommunistischen Partei, der ich so lange
die Treue gehalten habe.' ... 'So darfst du nicht denken', tröstete ich meinen
Vater. 'Zugegeben, du bekommst wenig, aber dafür hast du einen sicheren Job, eine
eiserne Reisschüssel, die dir niemand wegnehmen und zerbrechen kann, nicht mal
ein Panzer. Tag für Tag sitzt du bloß an deinem Schreibtisch, trinkst Tee, liest
Zeitung oder plauderst mit den anderen, und am Monatsende kannst du ein volles
Gehalt nach Hause tragen. Ich dagegen reiß mir den Arsch auf für diesen Kapitalisten,
der mich nach Stunden bezahlt.' 'Was willst du denn? Du verdienst gut und kannst
dich an hochwertigen Nahrungsmitteln satt essen.' Ich erwiderte nichts, aber im
stillen dachte ich, dass ich mir einen Job mit einem regulären Gehalt wünschte,
eine Arbeitstelle, an der ich mich täglich acht Stunden lang ausruhen konnte.
Doch mein Vater gab keine Ruhe: 'Dieses Cowboy Chicken schmeckt wirklich großartig.
Wenn ich das jeden Tag bekäme und dazu noch Cola, könnte mir der Sozialismus gestohlen
bleiben.'" (S. 224 f.)
Wie bei den im vorrevolutionären China spielenden Romanen Pearl S. Bucks niemand
auf die Idee käme, die Dichtung für die ganze Wirklichkeit zu nehmen, so sicherlich
auch nicht in diesen Erzählungen. Und doch - es fehlen in dieser Sammlung die
positiven Gegenbilder. Eines sticht aus der Galerie der vielen deformierten,
verführten, irregeleiteten Personen hervor: Beina in "Der Bräutigam". Bis zuletzt
hält sie zu ihrem der
Homosexualität
bezichtigten Ehemann.
"'Du solltest die Scheidung einreichen.' 'Nein!' Ihr Schluchzen steigerte sich
zu einem Entsetzensschrei. 'Er ... er ist doch mein Mann und ich bin seine Frau.
Wenn ich sterbe, gehört meine Seele zu ihm. Wir haben geschworen, einander nicht
zu verlassen. Die anderen sollen reden, was sie wollen, ich weiß, dass er ein
guter Mann ist.' 'Warum hat
er sich dann mit Long Fuhai eingelassen?' 'Er wollte ein bisschen Spaß haben,
das war alles. Das ist doch nicht zu vergleichen mit Ehebruch
oder Bigamie.'" (S. 168)
Doch auch hier bleiben Zweifel bestehen, ob die selbstlose Treue nicht nur vorgeschoben und vielleicht alles
Andere als Altruismus ist, weil Beina weiß, dass sie
nie wieder einen Mann finden würde. "Was reizte ihn an ihr? Fand er wirklich Gefallen
an ihrem feisten Gesicht, das an einen Kugelfisch erinnerte?" (S. 143)
Man
würde nur zu gerne chinesische Rezensionen zu Ha Jins Werken zu Rate ziehen, um
mehr Sicherheit für eine gerechte Beurteilung zu gewinnen, nur ist kaum anzunehmen,
dass sie in der Volksrepublik China nicht der Zensur unterliegen.
(Diethelm Kaminski; 11/2002)
Ha Jin "Ein schlechter
Scherz. Erzählungen" Ein weiteres Buch des Autors:
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"Ein freies Leben"
Ha
Jins Roman spielt zum ersten Mal in den USA und thematisiert die
Erfahrungen eines chinesischen Immigranten der ersten Generation.
Der chinesische Student Nan Wu und seine Frau Pingping entschließen sich
im Sommer 1989, kurz nach den Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen
Friedens, in den USA zu bleiben und dort ein neues Leben zu beginnen. Es
sollte nur ein Studienaufenthalt werden, doch mit jedem Jahr in den
Staaten steigt die Wut auf die politischen Verhältnisse in der fernen
Heimat. Endlich dürfen sie nun auch ihren sechsjährigen Sohn Taotao zu
sich holen, der sich schnell an die neue Umgebung gewöhnt. Nan aber träumt
davon, ein großer
Dichter zu sein, und hat es wesentlich schwerer:
Ihn plagen Schuldgefühle seiner Frau gegenüber, der er sich eher
solidarisch als in Liebe verbunden fühlt, weil er seine Jugendfreundin
Beina nicht vergessen kann; schwer wiegt auch die Verantwortung, seiner
Familie ein sicheres Auskommen zu ermöglichen. Länger als zwölf Jahre
begleitet man als Leser den Alltag der Familie Wu, ihr tägliches Ringen um
Heimat, Liebe und Glück. (Ullstein)
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