Peter Härtling: "Waiblingers Augen"


Leserrezensionen zu diesem bereits vor vielen Jahren erschienenen Roman Peter Härtlings habe ich im Netz vergeblich gesucht.

Das lässt darauf schließen, dass Härtlings Dichterbiografie keine sonderliche Beachtung beim Publikum gefunden hat. Das ist auch verständlich, denn der schon mit knapp 26 Jahren verstorbene schwäbische Dichter Wilhelm Waiblinger (1804-1830) hat auch nach seinem Tod nicht annähernd den Ruhm seines von ihm verehrten englischen Vorbilds Lord Byron erlangen können, obgleich kein Geringerer als Eduard Mörike schon 1844 eine umfangreiche Gedichtsammlung Wilhelm Waiblingers (im Verlag G. Heubel, Hamburg) herausgegeben und mit einem lobenden Vorwort versehen hat.
Dennoch ist diese Lücke sehr bedauerlich, denn das vom am 13. November 1933 in Chemnitz geborenen Peter Härtling eindringlich gestaltete Dichterschicksal prägt sich dem Leser tief ein. Es gehört zu den seltenen Leseerlebnissen, die noch lange in einem nachklingen, nachdem man das Buch längst zugeklappt hat.

Heute ist der "junge Wilde" Waiblinger fast vergessen. Ob zu Recht oder Unrecht, soll hier nicht entschieden werden. Was Härtling vor allem interessiert haben mag, ist das Bild eines Besessenen an der Grenze zwischen Wahn und Selbstinszenierung nachzuzeichnen, eines frühreifen "genialischen" Poeten, der sich seiner spießbürgerlichen Umgebung weder anpassen kann noch will. Hin und her gerissen zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzweifeln, zwischen Aufbegehren gegen alle Normen und Flucht vor der Realität, schleudert er ehrgeizige Werke - Dramen, Romane, Gedichtzyklen - heraus, verglüht in wenigen "tollen" Jahren, schaufelt sich ohne Rücksicht auf seine Kräfte sozusagen sein eigenes Grab, weil er nicht in eine Welt passt, wie sie sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts darstellt: als eng, von kirchlichen und staatlichen Normen strengstens geregelt, ohne individuelle Freiräume, voller Vorurteile gegenüber Andersdenkenden und Andersgläubigen.

Waiblingers Tagebücher geben Einblick in das wilde Treiben Waiblingers und seiner Kommilitonen: "Wir sprangen, so gut wir konnten, dem Stift zu, hatten aber immer Mühe, wieder aufzustehen, wenn wir purzelten. Alles zu. Wir schrien und lärmten. Kamen noch hinein! Stellten uns dem Repetenten, taumelten in der Stub' umher, schlugen Scheiben hinaus, warfen um, was uns in Weg kam, und wie wir zu Bett kamen, weiß ich so wenig, als wie ich auf die Welt kam."

"Er ist in unser Leben eingebrochen, ... , eigensüchtig, nur darauf aus, sich zu erkunden und uns zu gebrauchen, gewiss begabt, doch eingesperrt in seinen Wahn, mit ein paar Versen das Leben zu steigern" (S. 185/186), spricht hämisch und ängstlich die Bürgerseele.

Härtling lässt es in der Schwebe, ob Waiblinger nur fremde Muster (Lord Byron) imitiert oder ob seine überbordende Fantasie sein Leben bestimmt, ob er in Opposition zur bürgerlichen Umgebung sein Leben bewusst stilisiert oder nicht anders leben kann, weil innere Stimmen ihn quälen und dazu treiben.

Wie schon in "Schubert" und "Schumanns Schatten" gelingt Härtling mit diesem auch strukturell ungewöhnlichen Roman ein tiefgründiges, schillerndes Künstlerporträt. Der Vorwurf der Geliebten Julie an Waiblinger, "Was du liebst, zerstörst du auch." (S. 151), umreißt die Tragik seiner Existenz. Auch das Gefäß "Liebe" ist viel zu eng für einen genialischen Menschen, der keine Rücksicht auf bürgerliche Normen nehmen kann und bis an die äußersten Grenzen des Erfahrbaren vorstoßen will. Waiblinger weiß das und kann diesem Schicksal doch nicht entrinnen. Obwohl er von Freunden, Wohlmeinenden und liebenden Frauen umgeben ist, bringt niemand die Kraft auf, seine Ausbrüche und Exzesse zu ertragen, stellen sie doch ihre eigene Existenz in Frage. Das verbindet Waiblinger mit der Opernfigur Don Giovanni und diese wiederum mit Lord Byron, dessen dichterisches Lebenswerk von einem monumentalen Don-Juan-Epos gekrönt wird.

Beide, Lord Byron wie Waiblinger, ahnen, wie ähnlich sie dem Mozart'schen Don Giovanni sind und bringen ihm ein neues tiefes Verständnis entgegen. Mit ihrer Interpretation sind sie ihrer Zeit weit voraus. Sie muss den normalen Bürger erschrecken. Waiblinger ist, (wie Don Giovanni), in Wahrheit in keine reale Frau verliebt, auch nicht in Julie, sondern verliebt in die Liebe. Die Suche nach der idealen Liebe ist sein Lebensgrund, sein Antrieb, der Urgrund allen Schwärmens und Dichtens. Julie spürt das und vermag die Kluft doch nicht zu überbrücken.

So wird auch verständlich, warum Julies kleiner Schwester Lily, dem "Kind", von 27 Kapiteln des Romans 14, jeweils mit "LILY" überschriebene, gewidmet sind: Das der Goethe'schen Mignon aus "Wilhelm Meisters Lehrjahre" ähnliche, springlebendige, frühreife, rätselhafte Kindwesen kommt dem unerreichbaren Liebesideal am nächsten: Lily ist gleichzeitig unschuldig und wissend, großmütig und eifersüchtig, vor allem aber unerreichbar und unberührbar in ihrer Jugend. Sie versteht sich als die heimliche Braut Waiblingers. Nur sein Tod kann diesen Zustand "reiner" Liebe bewahren.

Als Julie fünf Jahre nach der Trennung von Waiblinger Lily die Nachricht vom Tod des Dichters überbringt, "schrumpft" diese, "atmet kürzer, wird zu dem Kind, das ihn gesehen hat, das ihn liebte und eifersüchtig auf ihn war, die nun seit fünf Jahren leidet und nichts finden will als Spuren von ihm, die es sich verbietet, Liebe zu empfinden, und die von nun an, was ihr endlich erlaubt ist, einen Toten lieben wird." (S. 185)

Julie erkennt die Seelenverwandtschaft Lilys mit Waiblinger und tritt damit ihre "Ansprüche" an ihn mit den Worten "Du hast ja Waiblingers Augen, Lily" (S. 186) an die "rechtmäßige" Geliebte ab.

Nach der Lektüre dieses aufwühlenden biografischen Romans habe ich auch in Waiblingers italienischen Gedichten "Nachlese" gehalten. Vieles wirkt auf unsere inzwischen anders gestimmten Ohren unerträglich theatralisch und pathetisch, aber es finden sich auch immer Strophen, die auch noch dem heutigen Leser Freude bereiten können. Ein kleines Beispiel aus "Römischer Carneval I" sei an den Schluss dieser Leseempfehlung gestellt:

Wo die Wirklichkeit
zu finden,
Das Gewöhnliche?
Verzaubert
Ist die Welt; der
Mensch, er wandelt
Wunderbar in seine
Träume.
Seine Wünsche, seine
Sehnsucht,
Seine Phantasie
verkleidet,
Wie er ist, will er sich
nicht,
wie er möchte nur sich
zeigen.

Nur ein flüchtiger
Bewohner
Dieser Welt, zum
Scherz geboren,
Will er, gleich dem
Sommervogel,
Wenig goldne
Stunden
leben.
Und dem dumpfen
Haus der Puppe
In vollendeter
Entfaltung
Nun entnommen,
flattert er
Buhlend unter seinen
Blumen.

(Diethelm Kaminski; 05/2003)


Peter Härtling: "Waiblingers Augen"
Gebundene Ausgabe:
Kiepenheuer & Witsch.
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Taschenbuchausgabe:
dtv. 186 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Liebste Fenchel! Das Leben der Fanny Hensel-Mendelssohn in Etüden und Intermezzi"

Fanny ist ein Mädchen mit dunklen seelenvollen Augen und großer musikalischer Begabung. Aber Komponieren ist nichts für Frauen, befindet der Vater und später auch ihr Bruder, Felix Mendelssohn-Bartholdy. Doch unverdrossen und gefördert von ihrem Ehemann komponiert und dirigiert sie.
Einfühlsam zeichnet Peter Härtling das Leben von Fanny Hensel-Mendelssohn nach und entwirft zugleich ein Gesellschaftsporträt, da die Familie mit vielen berühmten Persönlichkeiten verkehrte, von Heine, Kleist und den Varnhagens bis zu Geheimrat Goethe. (dtv)
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