Juan Goytisolo: "Der blinde Reiter"
Der
am 5. Januar 2006 75 Jahre alt gewordene Juan Goytisolo ist einer der
bekanntesten, aber auch engagiertesten Autoren Spaniens. Wenn ein
solcher Autor seinen nach eigenen Angaben "letzten Roman"
vorlegt,
lohnt sich ein Blick zurück, ein Blick auf ein langes
Schriftstellerleben.
Juan und seinen beiden, später ebenfalls als Schriftsteller
bekannt gewordenen, Brüdern wurde das Schreiben geradezu in
die Wiege gelegt. Die regelmäßigen Leseabende und
die umfangreiche Bibliothek der Mutter Julia Gay machten in Goytisolos
Erinnerung das Schreiben für ihn zu einem
immerwährenden Abenteuer. 1955 schon debütierte er
mit dem Roman "Trauer im Paradies". Zwei Jahre später musste
er vor dem Franco-Regime nach Frankreich fliehen und arbeitete
später in mehreren Städten der USA als
Literaturdozent. International bekannt wird Juan Goytisolo mit seinem
1966 erschienenen Roman "Identitätszeichen", der in Mexiko
veröffentlicht werden musste, da bis zu Francos Tod seine
Werke in Spanien verboten waren. Dieser Roman über einen
Exilanten trägt stark autobiografische Züge eines
Autors, der selbst lange auf der Suche nach einer politischen
Identität war.
Goytisolo ist ein Querdenker par excellence. Er ist bekennender
Kosmopolit und einer der schärfsten Kritiker von
Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Während des Balkankrieges
reiste er durch
Bosnien
und verarbeitete seine Eindrücke in zahlreichen Artikeln u.a.
in "Lettre International" und in dem kontrovers aufgenommenen und
diskutierten Roman "Das Manuskript von Sarajevo".
Seit José Luis Zapatero die letzten spanischen Wahlen
gewonnen hat, hat sich Goytisolo auch wieder mit seinem Heimatland
versöhnt, obwohl er nach wie vor abwechselnd in Paris und die
meiste Zeit des Jahres in Marrakesch lebt, wo er auch "Der blinde
Reiter" geschrieben hat.
"Eines Tages sagte sie zu ihm, mit dir zu leben heißt, sich
in Einsamkeit zu üben. Ich weiß nicht, ob ich es dir
vorwerfen oder dir dafür danken soll."
Die Frau von Goytisolos alter ego, die jenen Satz ausspricht, ist
gestorben, und der Mann, allein und gebrechlich geworden,
fühlt das existenzielle Nichts auf sich einstürzen.
Er löst sich von seinen Erinnerungen, indem er sie noch einmal
aufschreibt. Die Gewalt der Sinnlosigkeit und des Verlustes erlebt er
als großen Schmerz. Was lässt ihm der blinde Reiter,
als den er
die
Zeit beschreibt, noch? Gibt es einen Vorhang nach dem Tod,
und was erwartet uns dahinter? So fragt er, der sich doch zeitlebens
vom starken Katholizismus Spaniens abgestoßen und
gleichzeitig seltsam angezogen fühlte. Und er setzt sich mit
Gott auseinander:
"Die ersten Zeichen von Angst angesichts der eigenen
Hinfälligkeit waren der Ursprung aller Mythen und Zeremonien,
aller Opfer und Gebete für den gespaltenen
Weltenschöpfer: den guten, der gewähren
ließ und nichts zur Kenntnis nahm, und den bösen,
der sehr wohl wusste, was geschah. Ihn selbst hatte man zum Handlanger
dieser hinterhältigen Strategie erzogen. Ohne
Scheiterhaufen,
Galgen, Pelotons oder Guillotinen keine irdische Macht. Doch die
Manipulanten der Angst weiteten sie auf das Jenseits aus. Die Gewalt
und die Kriege, deren Zeuge er gewesen war, die rohen Bilder von
Massengräbern und Vernichtungslagern waren läppisch
verglichen mit denen, die der Grausame sich ausdachte und von seinem
Versteck aus inszenierte. Die Opfer mussten in die Trillionen gehen,
vom ersten Homo erectus im Paläolithikum bis zum letzten
Informatiker im Silicon Valley. Kein Strafgerichtshof würde
ihn verurteilen, nicht einmal wegen unterlassener Hilfeleistung in
Myriaden von Fällen. Verglichen mit ihm und seinen Verbrechen
war der blutgierigste Tyrann ein harmloser Lehrling."
Und Gott antwortet ihm:
"Ich sage es dir klipp und klar: ihr wurdet geboren, um auf immer zu
vergessen. Der Schmerz über den Verlust lässt nach,
die Erinnerung verblasst und Empfindungen verlieren an Tiefe und Kraft.
Dies ist das Gesetz der Welt, die ich angeblich erschaffen habe, und
ihm seid ihr unterworfen. Es gibt keine untröstlichen Witwen
und Kinder. Die dich umgeben, werden ein paar Tränen
vergießen, doch dein Bild löst sich auf wie Schnee
im Wasserglas. Du denkst nicht mehr täglich an sie und musst
erst ihr Foto anschauen, um dich zu erinnern. Alles verschwimmt,
verbleicht und verlöscht. Das ist mein einziges Zeichen von
Güte. Denn hätte eure unverbesserliche Spezies die
Gabe, die Zukunft zu erschauen, glaubst du, die Menschen
würden sich fortpflanzen in Kindern, Enkeln und fernen
Urenkeln, deren Ansichten und Verhaltensweisen ihnen
unverständlich bleiben und sie mit Schrecken
erfüllten? Hätte der Vater des Vaters deines
Erzeugers auch nur geahnt, was aus dir einmal würde und du
über ihn schriebest, er hätte sich seinen Pflichten
gewisslich entzogen, er wäre vom falschen Zug abgesprungen!
Alles an dir würde ihn entsetzen. Deshalb schicke ich euch im
Gänsemarsch in die Grube: um euch den Anblick einer
Nachkommenschaft zu ersparen, die das Gegenteil dessen ist, was ihr
euch erträumt."
Dieser geträumte Monolog Gottes als der Versuch einer Antwort
auf unbeantwortbare Fragen zieht sich dann über viele Seiten
bis zum Ende des kleinen Büchleins. Es ist die
beeindruckendste Auseinandersetzung mit dem christlichen Gott, die ich
in den letzten Jahren gelesen habe.
"Wenn du erwachst", sagt Gott am Ende zum Autor im Traum,
"wirst du
mich nicht sehen, und wenn du nicht erwachst, ist alles vorbei."
(Winfried Stanzick; 05/2006)
Juan
Goytisolo: "Der blinde Reiter"
(Originaltitel "Telón de boca")
Aus dem Spanischen von Thomas Brovot.
Suhrkamp, 2006. 132 Seiten.
Buch
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Juan
Goytisolo wurde am 5. Jänner 1931
in
Barcelona geboren. 1993 erhielt er den Nelly-Sachs-Preis,
2002 den "Octavio-Paz-Preis", 2004
den "Juan-Rulfo-Preis",
2014 den Cervantes-Preis. Juan Goytisolo starb am 4. Juni 2017 in seinem Haus in Marrakesch.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Engel
und Paria"
Auf dem Markt von Marrakesch trägt ein maghrebinischer
Wandererzähler eine verschlungene Geschichte vor. Er fabuliert
und agiert, bezieht seine Zuhörer mit ein. Erzählt
wird die unmögliche Liebe zwischen zwei Gestalten
anstößiger und schwankender Identität, dem
gefallenen Engel und dem Paria, dem Ausgestoßenen.
Der Engel ist aus dem Paradies verstoßen, das unverkennbare
Züge einer totalitären Himmelsbürokratie
trägt, und auf der Erde gelandet, wo Anderssein ebenfalls
tabuisiert ist. Sein Gegenüber ist nicht minder verworfen; der
Wüstensohn vom Stamme der
Tuareg
ist der westlichen Welt durch seine bloße Gegenwart, seine
monströse Geschlechtlichkeit zum Anstoß geworden und
wird, in städtische Unterwelten abgestiegen, zum Paria.
Gefallener Engel und Paria: komplementär aufeinander bezogen,
vereint in einer Liebe, die als der schwierige und notwendige Weg zur
persönlichen Freiheit verstanden wird, zur Wahrhaftigkeit des
Gefühls, über die nicht die Gesellschaft, sondern
einzig der eigene Sinn richten kann.
Die Erzählung führt das utopische Paar von der Sahara
über die großen Pariser Boulevards bis zu den
Abwasserkanälen von Pittsburgh. Auf dieser Reise - die an die
alte mündliche Tradition der sich fortspinnenden
Erzählung aus "Tausendundeiner Nacht" anknüpft -
erleben wir eine ätzende Bloßlegung der
selbstgewissen modernen Gesellschaft. Im gleichen Zuge öffnet
sich das Schreiben zu einer Freiheit des gesprochenen Worts. Eros und
Subversion - das ist, unter teils greller satirischer Maskerade, das
Thema dieses Romans. Und darum geht es: den Impuls der
persönlichen Freiheit, das Gebot der
Freiheit
ernst zu nehmen. Die schöne Unverschämtheit der
schweifenden Vorstellung und der ungemäßigten Kritik
an unserer Lebenswelt macht "Engel und Paria" zu einer aufstachelnden
und zugleich eigentümlich heiteren Lektüre. (Suhrkamp)
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"Gläserne
Grenzen. Europa, Israel und der Islam"
Juan Goytisolo gilt als Mittler zwischen Orient und Okzident. Oft hat
der Schriftsteller mit seinen kritischen Essays und Artikeln
für Aufsehen gesorgt, wurde als "Nestbeschmutzer" beschimpft.
Die hier versammelten Texte aus zwei Jahrzehnten haben nichts von ihrer
Aktualität eingebüßt, schaffen im Gegenteil
ein umfassendes Bild von den Zuständen im Nahen Osten und in
Europa. Kenntnisreich setzt sich Goytisolo mit der Politik des Westens
gegenüber Saddam Hussein auseinander, seine Beobachtungen
während des ersten Golfkriegs geben Antworten auf die
Irakpolitik.
Als Reisender zwischen den Welten hat Goytisolo auch einen
ganz eigenen Blick auf die Politik der "Festung
Europa", den wachsenden Rassismus und die Verteufelung des
Islam. Seine kritischen Einlassungen sind ein
Brückenschlag
- nicht bequem, aber notwendig. (Suhrkamp)
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"Sommer
in Torremolinos"
Eine internationale Clique von Sommergästen in Torremolinos,
die nur eines im Sinn hat: nichts auszulassen, was einen
amüsieren könnte. Sie kommen aus Paris, Madrid oder
aus Amerika. Zu Hause sind sie Arzt, Journalist oder Filmproduzent oder
durch Schwarzhandel schnell zu
Geld gekommen. Sie tragen knappe Bikinis
und enge Bluejeans, sie sitzen am Schwimmbecken oder liegen im
heißen Sand am Strand. Sie warten, was der Tag bringen wird,
wer heute eine Party gibt, wer sich im Strandlokal "La Carihuela" sehen
lässt. Wer mit wem kommen wird und mit wem wieder geht. Sie
trinken, was ihnen unter die Finger kommt und davon reichlich.
Für ein paar Peseten kann man hier alles kaufen, nicht nur
Champagner
und Schalentiere.
Dabei hatte sich Claudia, die
Ich-Erzählerin, nichts mehr gewünscht als ein paar
ruhige Tage in Torremolinos ... (Verlag Klaus Wagenbach)
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"Die Marx-Saga"
Ein Schriftsteller greift den Vorschlag seines Verlags auf, aus
gegebenem Anlass einen neuen, den Roman über Karl Marx zu schreiben, der die Literatur bereichert, die
Leser fesselt und die Kassen füllt. Er geht ans Werk.
In der Wohnung in der Dean Street Nr. 28 ist das Fernsehgerät
eingeschaltet. Karl und Jenny Marx sehen eine Reportage über
die Landung Tausender albanischer Flüchtlinge an einem
italienischen Luxusstrand und können kaum fassen, was sie da
sehen: einstige Kommunisten auf der Suche nach dem Land ihrer
Träume - Amerika. Schon seit Monaten verfolgt die Familie auf
dem Bildschirm und in den Zeitungen den Niedergang der kommunistischen
Systeme, die angeblich
auf seinen, Karl Marx', Gedanken aufgebaut waren.
Wie reagiert der, dessen Lebenswerk nun zur Ausverkaufsware wird, die -
zu Schleuderpreisen angeboten - trotzdem liegen bleibt? Was kann jemand
tun, dem das Wasser bis zum Hals steht, weil er nicht mehr
weiß, wovon er und die Seinen morgen leben sollen? Und wie
kann ein Autor unter diesen Umständen über diesen
Menschen, sein Werk und Wollen, sein Leben und seine
Überlebenskämpfe schreiben, ohne sich in
Spekulationen zu verlieren? Er verabredet sich mit ihm und befragt ihn
dazu. Marx stellt sich den Fragen und der Geschichte im doppelten
Wortsinn. Er besucht noch einmal die Schauplätze des Triumphs.
Sie sind zum Jahrmarkt der Ideologien verkommen, auf dem die
Händler die großen und kleinen Symbole der einstigen
Macht verhökern. Konsum ist angesagt, Hamburger sind jetzt
Mode, Markennamen die Schlagwörter der europäischen Kultur. Marx findet
sich erstaunlich gut zurecht in dieser Welt, die seinen Theorien nur
Hohn und Spott oder gar Ignoranz entgegenbringt. Er tritt in Aktion, er
wehrt sich, nach allen Regeln der Medienkunst und doch auf seine Weise,
witzig, bissig, provokativ ...
Witzig, bissig, provokativ ist auch dieses Buch von Juan Goytisolo, das
einen hineinzieht in die Wechselfälle des Marxschen
Familienalltags, sein Gedankensystem, seine Freundschaften,
Feindschaften und Liebschaften.
Die geschichtlichen wie die aktuellen politischen Ereignisse bleiben in
diesem Roman immer erkennbar. Dennoch ist die Welt der "Marx-Saga" eine
Welt außerhalb der Zeit, zwischen der Vision
und dem Vermächtnis von Karl Marx einerseits und der
Vorstellungskraft eines Schriftstellers - nennen wir ihn einfach Juan
Goytisolo. (Suhrkamp)
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"Landschaften nach der Schlacht"
zur Rezension ...
"Reise zum Vogel Simurgh"
"Reise zum Vogel Simurgh" ist Goytisolos Schlüsselwerk - der
Roman, in dem der große Einzelne seine Lebensthemen Sexus,
Politik und Mystik auf radikal literarische Weise zusammenführt.
Geschlechtlichkeit ist für den bekennenden Außenseiter eine
Art Subversion per se: Bestandteil einer Entgrenzungserfahrung, in der
sich Eros und Heiliges durchdringen. Die politische Sphäre hat der
Emigrant und unermüdliche Kritiker geschlossener Systeme von jeher
auf die in ihr angelegten Ausgrenzungen befragt.
Sufi-Dichtung
und spanische Mystik schließlich, in der prägnanten
Ausformung des Juan de la Cruz, waren es, die ihn in seiner tiefsten
existenziellen Krise aus Angst und Enge geführt haben.
Raffend, in träumerischer Plötzlichkeit des Wechsels, nimmt
uns der Roman zu Räumen der Inquisition und der Repression ebenso
mit wie zu Bordellszenen, ideologischen Familienfeiern, dem
heimlich-peinlichen Wirken des Zensors - in immer neuen Bildern
gräbt Goytisolo sich in jenes Dunkelgebiet von gesellschaftlicher
Unterdrückung und radikalindividuellem Ausbruch. Indem der
vielgestaltige Erzähler des Romans sich dem geistigen Abenteuer
des Sufismus und der Mystik hingibt, gelangt er - jenseits der "dunklen
Nacht der Seele" - vom verlorenen Paradies bis hin zum wiedergefundenen
Garten Eden.
Juan Goytisolo hat nie ein indifferentes Buch geschrieben. Am wenigsten ist es dieses. (Suhrkamp)
zur Rezension ...
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