Sylke Tempel: "Was ist Globalisierung?"
Liberal objektiv
Ein gebundenes Buch mit Lesebändchen über ein Thema, welches durchaus
mit Angst und Aggressivität besetzt ist. Hier werden die für die
Öffentlichkeit auffälligsten Aspekte erläutert: Armut,
Umweltzerstörung, Kriege, mögliches Ende der Nationalstaaten,
Weltherrschaft der multinationalen Konzerne. Dabei sieht Tempel
prinzipiell eine neue größere (medial gestützte) Transparenz als
entscheidenden Faktor: Vergleichbar dem legendär gewordenen
Flügelschlag eines Schmetterlings in der Chaostheorie geht jedes lokale
Ereignis irgendwo auf der Welt überall jeden etwas an: Politik,
Terroranschläge, Seuchen, Regenwaldsterben, Flutkatastrophen, Ölpreise,
Mode oder Misswahlen.
Legt man Tempels Definition zugrunde, dann war die
Menschheitsgeschichte von Anfang an auf Globalisierung angelegt:
Völkerwanderungen, Eroberungskriege, Kolonialisierung, Erschließung
immer neuer Handelswege - eine weltweite "politische, wirtschaftliche
und kulturelle Vernetzung, den freien Austausch und Fluss von Waren,
Kapital und Dienstleistungen, von Menschen und Ideen." Naja, dann mal
kurz entschleunigt - so gesehen gehörten auch die Hunnengemetzel, die
Kreuzzüge oder die Sklavenjägerei zu den Vorboten der Globalisierung?!
Nein - aber (linkslastige) Polemik beiseite - Marco Polo, Christopher
Columbus, Vasco da Gama und Ferdinand Magellan waren wohl die
eigentlichen Pioniere der Globalisierung. In diesem Sinne ist letztere
ein westeuropäischer Impetus - aus Neugier wurde Machstreben wurde
Dominanz: politisch, militärisch, wirtschaftlich, kulturell. Wenn man
bedenkt, dass die USA auch nur größenwahnwitzige
Europäer sind, stimmt dies immer noch. Und makabrerweise ist Bob Dylan
ein ebenso globales Phänomen wie George W. Bush.
Tempel sieht die Konzerne durch die Globalisierung eher unter
verstärktem Druck durch die Konkurrenz und die Konsumenten, die
kritischer werden. Die Autorin behauptet auch, die Konzerne seien sich
ihrer Verantwortung für die Arbeitnehmer durchaus bewusst und die
Regierungen der demokratischen Nationalstaaten hätten noch genügend
Kontrolle über ökonomische Prozesse - und ihre Identität sei ohnehin
durch Sprache, Geschichte und Kultur geprägt. Allerdings steht zu
befürchten, dass die westliche Konsumunkultur den Rest der Welt
sukzessive nivelliert: Jeans, Fast Food, Hollywood, Hiphop, Handy und
Alkohol werden auf lange Sicht z.B. auch die islamischen Länder
unterwandern - ein zynischer Vorgang suggestiver Subkultur, die sich
wie ein Virus zum Mainstream durchboxt.
Das Verbrechen der Kolonialisierung und der (angebliche) Zusammenbruch
des Kommunismus werden äußerst verharmlost marginal erwähnt - während
der globalistische Fortschritt etwa mit dem Beispiel illustriert wird,
dass ein dreiminütiges Telefongespräch
London-New York im Jahr 1930 noch knapp 300 Dollar kostete, während es
heute "fast umsonst" sei. Ebenso treuherzig wird verkündet, dass keine
Diktatur heute mehr ihre Bürger unterdrücken könne, weil durch das
Internet alle Informationen alle Grenzbestimmungen überwänden. Das ist
übrigens auch traurig-typisch: Die heutigen "modernen" Menschen denken
in
Telefoneinheiten - nicht mehr in Kategorien von Solidarität und
Aufklärung. Tempel bringt "eine oft unberechenbare Dynamik" ins Spiel,
"die Produktionsweisen revolutionierte, Lebensstile umkrempelte,
Kulturen veränderte." Das ist
antiseptisch-politisch-korrekt-liberal-objektiv - aber wo bleibt der
individuell-humane Appell?!
Was die Autorin in ihrer selektiv-deskriptiven Herangehensweise völlig
außer acht lässt, ist die historische Tatsache, dass z.B. auch die
Christianisierung eine gewaltige Globalisierungsbewegung war (und ist?)
- und dass der fundamentalistische Islam mit seinem "Heiligen Krieg"
ebenfalls auf globale Dominanz abzielt. Was dieses Buch andererseits
leider auch vernachlässigt, ist die mindestens ein Jahrhundert alte
ernstgemeinte linke Idee einer Internationale, in der Solidarität
oberstes Prinzip ist. Und dass Goethes Idee des Kosmopoliten zur
Karikatur des Touristen verkümmerte, bleibt sowieso und ebenso
unbemerkt.
Das Problem mit diesem Buch ist von Anfang an, dass es zu "glatt" ist,
zu "liberal" - es spricht etliche Aspekte der sogenannten
Globalisierung an, ohne allerdings wirklich die Brutalität dieser
Entwicklung zu verdeutlichen - d.h. es bleibt zu lexikalisch und wird
trotz etlicher Beispiele und Statistiken zu wenig authentisch. Hier
wird in ziemlicher neoliberaler Manier aus der Sicht der
Krawattenträger ein Prozess verharmlost, der realiter zum Teil gezielt
mafiös, z.T. womöglich sogar unkontrolliert vorangetrieben wird. Zwar
erwähnt die Autorin auch die Arroganz der Westeuropäer, die Restwelt
"zivilisieren" zu wollen - dabei wird allerdings nicht genügend
kritisch diskutiert, mit welcher Berechtigung (außer Chuzpe) das
westeuropäisch-christianisch-kapitalistische Modell den Globus
überziehen dürfe wie ein amorphes Kondom.
Die Autorin hegt die Hoffnung: "Aber was durch die Globalisierung wenn
schon nicht verursacht, dann doch wenigstens verschärft wird, kann auch
nur durch die Globalisierung gelindert werden" - etwa Kriminalität,
Drogenhandel, Zwangsprostitution und Kinderarbeit. In diesem
Zusammenhang gelten die Menschenrechte für Tempel als der "wertvollste
westliche Exportartikel." Na immerhin! Das Beispiel des Umgangs mit dem
Kyoto-Protokoll zeigt allerdings, dass eine sogenannte globale
Umweltpolitik noch sehr in den Anfängen steckt.
Letztendlich zieht Tempel ein recht optimistisches Fazit: Wachstum beseitige
Armut und fördere Demokratie - Welthandel und Umweltschutz seien sich nicht
feindlich im Weg - Globalisierung
bedinge eben Transparenz und weltöffentliche Kritik sowie den zunehmenden Einsatz
umweltfreundlicher Energieformen. Möge allmählich der Konjunktiv aus den Globalisierungssentenzen
verschwinden, und möge sich Tempels fromme Hoffnung, dass Globalisierung auch
"grün" sein könne, vehement und alsbald erfüllen!
(KS; 09/2005)
Sylke Tempel: "Was ist Globalisierung?"
Rowohlt Berlin, 2005. 159 Seiten.
ISBN 3-87134-504-0.
Buch bei buch24.de bestellen
Buch
bei amazon.de bestellen
Sylke Tempel, geboren 1963,
studierte Geschichte, Politische Wissenschaften und Judaistik. Sie lebt als
freie Journalistin in Berlin und lehrt an der dortigen Dependance der Stanford
University.
Weitere Bücher von Sylke Tempel:
"Dürfen Sklaven sich verlieben? Wie die alten Römer lebten"
Was war im alten Rom en vogue? Wie hielten sich die Römer fit? Wie eroberten
und regierten sie ihr Weltreich? Gab es Buchhandlungen und Bibliotheken? War die
res publica eine Demokratie? Konnten Sklaven Karriere machen? Waren die Römer
ausländerfeindlich? Warum bekamen sie in der Arena keinen Sonnenstich? Gab es
weibliche Gladiatoren? Was lernte ein junger Römer in der Schule? Und welches
Erbe haben uns die Römer hinterlassen? In dieser unterhaltsamen
Alltagsgeschichte wird das Römische Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht und
kulturellen Blüte lebendig. (rororo)
Buch
bei amazon.de bestellen
"Das alte Rom"
Wieso herrschte in den Straßen Roms laut Juvenal auch nachts ein "Krach,
der einem Meerkalb den Schlaf rauben würde"? Warum hielten sie die
Sklaverei für selbstverständlich? Wie wurde das römische Weltreich erobert
und verwaltet? Welche Stellung hatten die Römerinnen? Was lernte ein junger Römer
in der Schule? Warum bekamen sie in der Arena keinen Sonnenbrand? Wie groß war
damals der Einfluss fremder Kulturen und wie hielten es die Römer mit den Ausländern?
In dieser unterhaltsamen Alltagsgeschichte wird das Römische Reich auf dem Höhepunkt
seiner Macht und kulturellen Blüte (100 v.Chr. bis 100 n.Chr.) lebendig: auf
dem Forum, in Amtsstuben und Lagern, bei Gastmählern und Versammlungen, unter Händlern
und Legionären, in den Straßen und Tempeln, den Schulen, Theatern und Bädern,
bei den Plebejern, Patriziern und Sklaven und nicht zuletzt in den Schriften der
römischen Philosophen, Historiker und Satiriker. Das richtige Buch für alle
(lateinentwöhnten) Leser, die ihr Wissen über die römische Antike nicht nur
aus historischen Romanen beziehen wollen. (Rowohlt Berlin)
Buch
bei amazon.de bestellen