Thomas Glavinic: "Wie man leben soll"
Merke: Auch Christus war unschuldig und ist gekreuzigt worden.
"Charlie"
Kolostrum, der Protagonist der Geschichte versucht sein chaotisches
Leben als 16-jähriger Gymnasiast mit Hilfe von Ratgebern in
den Griff zu bekommen. Demnach ist er ein "Sitzer" mit einer Vorliebe
für opulente Speisen, Karl-May-Romane und abenteuerliche
Tagträume, die allesamt von seinen Heldentaten
geprägt sind. Doch sein größtes Interesse
gilt dem weiblichen Geschlecht, wobei allerdings seine korpulente Figur
etwas von Nachteil ist. Mit wem man geht, ist zumeist eine Frage der
Gelegenheit, nicht der Wünsche, muss Charlie ziemlich rasch am
eigenen Leib erfahren. Doch dadurch lässt er sich nicht
entmutigen. Erste
sexuelle Erfahrungen mit Claudia, die sicherlich nicht zu den
begehrenswertesten Mädchen der Klasse gehört, lassen
ihn im Ansehen seiner Klassenkameraden steigen und werden mit
neidischen Blicken und jenem verschämten Lächeln
quittiert, das amourösen Sensationen gemein ist. Diesen ersten
sexuellen Annährungsversuchen verdankt er auch die Erkenntnis,
dass die weibliche Brust gefühlsmäßig einem
Tafelschwamm nicht unähnlich ist.
Immer wieder gerät Charlie mit seiner Mutter, die sich
offensichtlich selbst in einer Krise befindet, in Konflikte und immer
häufiger quält ihn die Frage: "Wieso ist man kein
Achtundsechziger?" Zu dieser Zeit durfte man bedenkenlos dick sein und
kam dank freier Liebe trotzdem auf seine Kosten.
Nach Bestehen der Matura reicht es ihm vorerst, unter dem Einfluss von Cannabis
im Bett zu liegen, psychedelische Musik zu hören und ein
immenses Glücksgefühl zu genießen. Mangels
ausgeprägter Interessen entscheidet sich Charlie für
ein Studium der Kunstgeschichte, da es keine andere Studienrichtung
gibt, in deren Vorlesungen so viele schöne Frauen zu bewundern
sind. Doch das Studieren verliert zunehmend seinen Reiz, und einmal
eingeschlagene Wege sind nicht immer von Vorteil.
Thomas Glavinic ist mit diesem Roman eine
außergewöhnlich komische Geschichte gelungen, die
die Jugendzeit und Adoleszenz mit all ihren Wirrnissen und grotesken
Situationen herrlich beschreibt. Trotz all der lustigen Episoden und
irrwitzigen Verstrickungen in Todesfälle bleibt die Geschichte
nicht ohne tieferen Sinn. Charlie Kolostrum begreift rasch, dass
Erwachsensein nicht bedeutet, freie Entscheidungen treffen zu dürfen,
sondern zu müssen - und richtet sich ein
in einer Gesellschaft ohne Helden. Doch das Leben hält auch
für siebenundachtzigprozentige Sitzer grandiose
Überraschungen parat!
(Margarete; 05/2004)
Thomas
Glavinic: "Wie man leben soll"
dtv, 2004. 240 Seiten.
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Thomas Glavinic, geboren 1972 in Graz, schreibt seit 1991 Romane,
Essays, Erzählungen, Hörspiele und Reportagen. 1998
erschien sein erster Roman "Carl Haffners Liebe zum Unentschieden",
2000 folgte sein zweiter Roman "Herr Susi", 2001 sein Kriminalroman
"Der Kameramörder", der 2002 mit dem Friedrich-Glauser-Krimipreis
ausgezeichnet wurde. Thomas Glavinic lebt in Wien.
Ergänzende Buchtipps:
Weil es rein sprachlich so gut dazu passt:
"Wie soll man leben?" Anton Cechov liest Marc Aurel
Die "Selbstbetrachtungen" Marc Aurels - des
römischen Kaisers und Stoikers - gehören zu den
meistgelesenen Werken der Menschheit. Philosophen,
Staatsmänner und Literaten aller Zeiten fanden durch die
Lektüre dieser Maximen zu mehr Gelassenheit und Seelenfrieden.
Es spricht darin die Stimme eines Kaisers, der nichts als ein
tätiger Mensch ohne Vorurteile sein wollte. Bis heute wurde
kaum erkannt, von welcher Wichtigkeit Marc
Aurels "Selbstbetrachtungen" für das Werk von Anton
Cechov sind: Das eigens in Leder gebundene Buch machte
sämtliche Umzüge mit und musste jederzeit zur Hand
sein. Peter Urban, Herausgeber und Übersetzer, hat in Jalta
Cechovs Handexemplar der "Selbstbetrachtungen" studiert, das zahlreiche
Randbemerkungen und Anstreichungen enthält, und
stieß dabei auf Stellen, die Cechov mehr oder weniger
wörtlich in sein Werk - seine Erzählungen,
Theaterstücke und Briefe - integriert hat. Dieser Band bringt
den Teil der "Selbstbetrachtungen", den Anton Cechov für sich
als Künstler wie als Mensch für wichtig hielt, den
er, wäre er Herausgeber einer Marc-Aurel-Edition gewesen,
ausgewählt hätte.
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Weitere Bücher von Thomas
Glavinic:
"Das
bin doch ich"
Ein
Mann schreibt einen Roman. Der Mann heißt Thomas Glavinic,
der Roman heißt
"Die
Arbeit der Nacht", und der Mann will das, was alle wollen: Erfolg. Er
will einen
Verlag, einen Preis, Geld. Was er hat, ist ein Manuskript, eine
Literaturagentin, Kopfschmerzen und leider zumeist
unerträgliche Mitmenschen.
Und er hat auch einen netten Freund, der selbst einen Roman geschrieben
hat,
dessen Verkaufszahlen die Mutter unseres Autors zu dem Aufschrei
bringen:
"Wann schreibst du denn mal so was?" Mit vollendetem Realismus und
aberwitziger Komik spielt Thomas Glavinic ein Spiel mit der
Wirklichkeit und
ihrer Verdopplung - ein seltenes, ungewöhnliches
Lesevergnügen. (Hanser) zur
Rezension ...
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"Die Arbeit der Nacht"
Jonas ist allein. Zuerst ist es nur eine
kleine Irritation, als die Zeitung nicht vor der Tür liegt und
Fernseher und
Radio nur Rauschen von sich geben. Dann jedoch wird Jonas klar, dass
seine
Stadt, Wien, menschenleer ist. Ist er der einzige Überlebende
einer
Katastrophe? Sind die Menschen geflüchtet? Wenn ja, wovor?
Jonas beginnt zu
suchen. Er durchstreift die Stadt, die Läden, die Wohnungen
und bricht schließlich
mit einem Wagen auf, um nach Spuren der Menschen suchen. Mit wachsender
Spannung
erzählt Thomas Glavinic davon, was Menschsein heißt,
wenn es keine Menschen
mehr gibt. zur Rezension ...
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"Der Kameramörder"
"Ich wurde gebeten, alles aufzuschreiben." Mit diesem Satz
beginnt der Ich-Erzähler seinen Bericht über ein
Osterwochenende, an dem er und seine Lebensgefährtin ein
befreundetes Paar in der Steiermark besuchen. Während die
Medien minutiös über einen am Karfreitag geschehenen
Doppelmord an zwei Kindern berichten, den der Mörder mit einer
Videokamera aufgenommen haben soll, pendeln die vier Freunde zwischen Fernseher
und Kartenspiel, Küche und Gesprächen hin und her.
Einerseits angewidert, andererseits stets fasziniert und voller Lust an
der Sensation kommentieren sie dabei die Handlungsweise der Medien.
Draußen, in der echten Welt, wird gleichzeitig fieberhaft
nach dem Mörder gesucht. zur Rezension ...
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"Carl Haffners Liebe zum Unentschieden"
Im
Winter des Jahres 1910 steht die Schachwelt kopf. Der in Wien und
Berlin ausgetragene Kampf um die Weltmeisterschaft nimmt in der
fünften Partie eine unvorhergesehene Wendung. Der
hochfavorisierte Titelverteidiger, der Deutsche Emanuel Lasker,
berühmt auch als Gelehrter und Philosoph, ist durch einen
Fehler, den sonst nur Anfänger machen, in Rückstand
geraten. Ins Schlaglicht des Interesses rückt nun
plötzlich der Herausforderer - Carl Haffner. Der bis dahin
kaum beachtete Österreicher ist ein Defensivkünstler,
ein Meister des Remis. Unzählige Turniere hat er gewonnen -
aber nur dadurch, dass ihn niemand zu schlagen vermochte. Jetzt bietet
sich ihm die Gelegenheit, Lasker die Krone zu entreißen. Die
zehnte und letzte Partie muss die Entscheidung bringen ...
Thomas Glavinic zelebriert die Auseinandersetzung beider
Männer als das Aufeinanderprallen zweier Lebensauffassungen,
zweier unterschiedlicher Charaktere. Haffner und Lasker kommen beide
aus armen Verhältnissen, aber während der Deutsche
mit Selbstbewusstsein und Vermarktungstalent ausgestattet ist, bleibt
der bescheidene Haffner ein Sonderling, einsam, mittellos und
unverstanden. Glavinic porträtiert die Atmosphäre und
die Verhältnisse dieser Zeit, folgt Haffner zurück in
die Kindheit und Familie, balanciert Zug um Zug zwischen "der
Schwäche der Furcht und der Schwäche
übertriebenen Mutes". zur Rezension ...
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"Das Leben der Wünsche" zur Rezension ...
"Das größere Wunder" zur Rezension ...
Leseprobe:
An dem Abend, an dem drüben in Amerika die Challenger
über Cape Canaveral explodiert, liegt man zum erstenmal mit
einem Mädchen im Bett. Von dem Unglück ahnt man
nichts, man konzentriert sich auf unsittliche Berührungen. Aus
einem Kassettenrecorder dringt Musik, von der man weiß,
daß sie dem Mädchen gefällt. So ist das
Objekt der Sehnsucht in der gleichen Stimmung wie man selbst. Auch wenn
man das für unmöglich hält.
Berührt man die weibliche Brust, stellt man fest,
daß sie sich ähnlich anfühlt wie ein
Tafelschwamm.
- Hoppla, Entschuldigung, murmelt man.
Claudia schweigt.
Zweifelhafte Gazetten verbilden Jugendliche und treiben sie
scharenweise den Psychoanalytikern in die Arme. Entgegen deren
Informationen schätzen es Mädchen nämlich
unter bestimmten Umständen, an den Geschlechtsteilen befummelt
zu werden, so sehr die Kirche und der bärtige Schularzt,
dessen Atem nach Marillenlikör riecht, einem das ausreden
wollen. Gottlob sind Neugier und Natur stärker als alle
zusammen.
Man schließt die Augen und genießt Claudias Duft.
Sie riecht blumig. So frisch, so fremd. Der Geruch eines anderen
Menschen, so nah. Ein wunderbares Erlebnis. Man kann kaum glauben,
daß es passiert, daß man plötzlich vom
Glück verfolgt sein soll. Wenn man Karl Kolostrum
heißt und immer schon der dickste der Klasse war, ist man
einiges an Spitznamen und Bösartigkeiten gewohnt und in
Liebesdingen alles andere als verwöhnt.
Man liegt unbequem da. Wagt nicht, den steifgewordenen Arm unter dem
Körper wegzuziehen. Man befürchtet, diese Bewegung
könnte Claudia so verschrecken, daß sie sich die
Sache noch einmal überlegt und Hals über Kopf zur
Tür hinausstürzt. Doch das Risiko ist es wert. So
bewegt man die Lippen auf jene des Mädchens zu. Dabei achtet
man darauf, nicht zu hastig vorzugehen. Wenn endlich Mund auf Mund
trifft, staunt man über den Eindruck, den diese
Intimität erzeugt.
Vorsichtig schiebt man die Zunge in Claudias Mund, ohne sich vom
Klopfen seines Herzens irritieren zu lassen. Man bemüht sich,
daß es zu keiner Kollision der Gebisse kommt. In "Das erste
Mal" hat man gelesen, solches sei der Romantik des Moments
abträglich und nur durch Lachen zu kompensieren. Das aber
setzt ein gewisses Maß an bereits vorhandener Harmonie
voraus. Und so lange ist man ja nicht zusammen. Drei Wochen, was ist
das schon.
Beflissen vermeidet man ferner, der Geliebten in den Mund zu speicheln.
Jedenfalls in übertriebenem Ausmaß. Ein wenig
Speichel bringt Vertrautheit, doch dosis venenum facit.
Die Küsse sind lang und innig.
In regelmäßigen Abständen donnert Mutter
mit ihrem Gipsarm, den sie einem Alkoholexzeß verdankt, gegen
die versperrte Tür, um den Kindern keine Zeit für
eine Schwängerung zu lassen. Vor Claudias Ankunft hat sie
allen Ernstes behauptet, sie selbst müsse in diesem Fall
für die Alimente aufkommen, da man noch unmündig sei,
und daher solle man, wie sie sich ausdrückte, den Hengst im
Stall lassen.
Man reagiert nicht. In Claudias Beisein will man der eigenen Mutter
unterkühlt-lässig begegnen. Dies wird der Freundin
das Gefühl vermitteln, einen reifen Partner gewählt
zu haben, der sich wohltuend von den kreidewerfenden, kraftmeiernden
und Allotria treibenden Kindsköpfen in ihrer Klasse
unterscheidet.
Obwohl 1986, läuft mittlerweile dieselbe Kassette von Simon
& Garfunkel zum sechsten Mal. Insgeheim träumt man
davon, das Kabel des Recorders durchzuschneiden. Dennoch widmet man
sich mit Hingabe der ersten Erforschung der weiblichen Anatomie.
Merke: Wenn man beim Streicheln abrutscht und aus Versehen mit der Hand
zwischen den Beinen des Mädchens landet, ist Aufregung
unangebracht.
Claudia reagiert darauf nicht. Tut, als sei nichts passiert. Sie hat
keinen Schock erlitten. Und sie macht keine Anstalten, zu protestieren
oder gar zu fliehen.
Man greift noch einmal zwischen ihre Beine. Und noch einmal. Denn
hinter dem Reißverschluß der Stonewashed-Jeans
verbirgt sich das größte Geheimnis des Lebens, vom
Tod vielleicht abgesehen. Obwohl man keine Ahnung hat, was es bedeutet,
miteinander zu schlafen, will man es. Leider will Claudia nicht. Noch
nicht. Und es ist keine Frage von Jahren, sondern von Wochen. Aber das
weiß man nicht, weil man erst sechzehn ist.
Wenn morgens um sechs der Radiowecker dröhnt, sitzt man in der
nächsten Sekunde aufrecht im Bett und schreit Huuuuch!, weil
man enorm schreckhaft ist.
Sobald man sich beruhigt hat, denkt man an Claudia. Man bleibt
fünf Minuten liegen. Mutter klopft an die Tür und
meckert, man sei nie aus dem Bett zu kriegen. Man ist versucht zu
entgegnen, es sei kein Wunder, daß es ihr leichtfalle
aufzustehen bei den Mengen an Psychopharmaka, die sie sich in den
Frühstückskaffee rühre. Um des lieben
Friedens willen verkneift man sich diesen Hinweis.
- Charlie, roll dich endlich da raus!
Früher hat man ungern geduscht. Den Anblick findet man nicht
sehr einnehmend, denn um die Hüften schwabbelt es.
Außerdem ist man träge. Doch seit man zu zweit
Blümchen pflückt und Sonnenuntergänge
bewundert, stellt man sich bei jeder Gelegenheit unter die Brause. In
Ovids Ars amandi hat man gelesen, es sei ratsam, die Geliebte
nicht mit der Ziege Gemahl zu belästigen, womit der
Bocksgeruch unter der Achsel gemeint ist. Während man sich
Duschgel auf die Haut schmiert, schmettert man Jumping Jack Flash. Den
Originaltext, den man nicht auswendig weiß, ersetzt man wie
üblich durch spontane Interpretation. Man ist
überzeugt, eine schöne Stimme zu haben und alle
Töne zu treffen. Dennoch protestiert Mutter durch Schreie und
Schläge gegen die Tür. Man stöhnt auf und
verstummt, um kurz darauf wenigstens die Melodie weiterzusummen.
Da die Mutter faul und dem Alkohol ergeben ist, was neben ihrem Hang
zur Promiskuität den Vater bewogen hat, das Weite zu suchen,
steht auf dem Frühstückstisch nur ein Aschenbecher,
aus dem es qualmt. Sie hat vergessen einzukaufen. Oder einen selbst zum
Einkaufen zu schicken. Nun redet sie sich heraus, man sei ohnehin schon
zu dick und zu pickelig. Je weniger man esse, desto schöner
werde die Haut.
Wenn man verliebt ist, sind derartige Pannen, die andernfalls gleich am
Morgen zu einer gehässigen Auseinandersetzung geführt
hätten, nicht der Rede wert. Ohne Groll gießt man
heißes Wasser in den Kaffeefilter vom Vortag.
Wie jeden Morgen legt Mutter einen Geldschein auf den Tisch. Zu kochen
hat sie keine Lust. Deshalb ißt man seit Monaten
auswärts. An sich würde einen das nicht
stören, kocht Mutter schließlich nicht gerade
exzeptionell, doch auch die Küche in den umliegenden
Gasthäusern verbessert den Ruf des Viertels nicht. Wortlos
schiebt man den Schein in die Hosentasche.
Da noch Zeit bleibt, kehrt man in sein Zimmer zurück, dreht
den Schlüssel um, legt sich aufs Bett und setzt
Kopfhörer auf. Gewöhnlich hört man Hard
Rock. An diesem Morgen jedoch gleitet man zu John Lennons Woman in
einen jener Tagträume, denen man sich gern hingibt.
Man stellt sich vor, man ist stark, schön und besitzt ein
Motorrad. Damit fährt man vor der Schule vor. Alle starren
einen bewundernd an. Natürlich trägt man keinen Helm,
und an den Oberarmen ist man tätowiert. Lässig steigt
man ab. Claudia läuft herbei. Man umarmt und
küßt sie. Alle schauen zu. Das Motorrad ist eine
Riesenmaschine, wie man sie aus Hippiefilmen kennt. Claudia nimmt auf
dem Sozius Platz, man dreht eine Runde, verfolgt von den neidischen
Blicken sämtlicher Mädchen der Schule.
Erst wenn die Tür aufgebrochen wird und Mutter gestikulierend
im Zimmer steht, merkt man, daß man den Stecker des
Kopfhörers falsch angesteckt und somit auch das ganze Haus mit
betäubender Lautstärke beschallt hat. Mit einem Hieb
schaltet sie die Stereoanlage aus. Einen Blick auf die aus den Angeln
gerissene Tür werfend, drückt man sich an Mutter
vorbei. Man beeilt sich, zum Bus zu kommen. In der Schule wartet
Claudia.
Kurz nach dem sechzehnten Geburtstag hat man sich verliebt. Nicht zum
erstenmal, aber zum erstenmal wird diese Liebe erwidert. Also ist es
die erste Liebe.
Da man nach einigen Zurückweisungen nicht mehr
wählerisch ist, handelt es sich bei Claudia keineswegs um die
Klassenschönste. Auch nicht zu den hübschesten
Fünf darf man sie zählen. Um der Wahrheit die Ehre zu
geben, wird sie von den wenigsten als attraktiv bezeichnet werden. Und
um ganz ehrlich zu sein, sieht sie mit ihrem Mondgesicht und ihrer
Krankenkassenbrille aus wie die Fliege Puck. Aber was soll man machen.
Man liebt, was man kriegen kann. Und da sie ein Hippie ist und nett und
für ihr warmherziges Wesen bekannt, begnügt man sich
mit dem, was einem das Schicksal zugewiesen hat.
Man trifft sie vor der Schule. Bange fragt man, ob sie einen noch liebt.
- Natürlich liebe ich dich. Du bist die große Liebe
meines Lebens.
- Und du meine.
Hach!
Hand in Hand macht man sich auf den Weg zur Klasse.
Im Klassenzimmer umarmt und küßt man Claudia, um das
Geheimnis zu lüften. Den Knutschfleck unter Claudias Ohr
versteckt man nicht, im Gegenteil, er hat Arbeit gemacht, ebenso wie
der an Claudias Hals.
Bei den Klassenkameraden erntet man verwunderte, teils neidische Blicke
und jenes verschämte Lächeln, das mit
amourösen Sensationen einherzugehen pflegt. Sogar das
Unglück der amerikanischen Raumfähre tritt in den
Hintergrund. Für den Stolz, den man dabei fühlt,
braucht man sich nicht zu schämen. Eine Freundin zu haben
bedeutet, zu einer Siegerkaste zu gehören. Damit hat man,
wenigstens theoretisch, selbst vielen Erwachsenen etwas voraus.
Überdies gilt es zu bedenken, daß wohl auch
Lehrerinnen und Lehrer zu jenem traurigen Kreis von Gottverlassenen
zählen mögen, die seit langer Zeit sexuell abstinent
leben, etwa deshalb, weil sie aussehen wie Eulen
oder in den Keller lachen gehen. Und die dürfen nun zuschauen,
wie zwei der ihnen zur Kultivierung Zugewiesenen jene Freuden
genießen, die ihnen selbst verwehrt bleiben.
Als Teil eines Pärchens steigt man im Ansehen anderer
automatisch, ob es ihnen bewußt
ist oder nicht. Was macht es da, daß es in der
Klasse reizvollere Mädchen gibt? Solche mit anziehenderen
Gesichtern, mit entwaffnenderen Brüsten? Freilich
würde eine
Beziehung mit einer von ihnen noch mehr Aufsehen erregen.
Aber die dummen Gänse wollten ja nicht. Nun sollen sie sehen,
wo sie bleiben.
Merke: Wenn man Gelegenheit findet, eine Partnerschaft einzugehen,
sollte man sie nützen. Es ist gut für die Hormone,
die Lebenserfahrung und den Ruf.