Yasmine Ghata: "Die Nacht der Kalligraphen"
Im
Jahr 1928 ersetzte die türkische Republik unter
maßgeblicher Führung von Kemal Atatürk die
Jahrhunderte lang herrschende arabische
Schrift
durch eine abgewandelte
Version des lateinischen Alphabets. Für die türkische
Gesellschaft, über eine lange Zeit islamisch geprägt,
war dies zusammen mit der gleichzeitigen Trennung von Staat und
Religion und der Einführung eines vom Militär streng
überwachten Laizismus ein Schock, zumal dieser Prozess nicht
unbedingt demokratischen Leitlinien folgte.
Das Ergebnis allerdings war, dass
die
Türkei sich entwickelte,
Anschluss an die industrielle Entwicklung Europas gewann und nun sogar
"vor den Toren Europas" auf die Aufnahme in die EU hofft. Der
Historiker Dan Diner hat unlängst in einem nach Meinung des
Rezensenten für das Verständnis der
gegenwärtigen islamischen Welt unverzichtbaren Buch mit dem
Titel "Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der
islamischen Welt" (Propyläen Verlag 2006) darauf hingewiesen,
dass neben anderen Faktoren das Festhalten am religiös
aufgeladenen Arabischen sowie die fehlende Säkularisierung der
Sprache und der Kultur wesentliche Gründe für
die Rückständigkeit der
arabischen Welt
darstellen. Und er hat für die Zukunft keine besonders
optimistischen Erwartungen: "Die Entwicklung, die im Westen
mit der Erfindung des Buchdrucks anhob und durch die
Renaissance und
Reformation beflügelt wurde, konnte in den muslimischen
Ländern arabischer Sprache durch die Beständigkeit
des Sakralen aufgehalten werden. Diese Entwicklung nachzuholen ist ein
herkulisches Unternehmen zukünftiger Generationen."
Yasmine Ghata, 1975
in Frankreich geboren, arbeitet als Expertin
für islamische Kunst. So ist ihr dieses Buch über
ihre Großmutter Rikkat nicht nur ein biografisches Anliegen,
sondern sie beschreibt die Leidenschaft, ja Besessenheit von Menschen,
die sich, religiös berufen wähnend, einer Kunst und
einem Leben hingeben, das "im Westen" wohl vornehmlich Gedanken an eine
mittelalterliche, klösterliche Schreiberexistenz aufkommen
lässt.
Atatürks Revolution beraubte die Kalligrafen ihrer
traditionellen Glorie. Yasmine Ghata gibt einer der wenigen Frauen in
der im Wesentlichen Männern vorbehaltenen Zunft der
Kalligrafen ihre Stimme zurück. Rikkat erzählt ihr
Leben, von ihren beiden unglücklichen Ehen. Sie berichtet von
ihrem lebenslangen leisen Kampf gegen die Vorherrschaft der
Männer und von ihrer an Besessenheit grenzenden Leidenschaft
für die Kalligrafie, die Kunst der schönen Schrift,
die Schreibern und Lesern religiöser Texte über das
Bilderverbot des Koran hinweghalf.
Von ihrer Umgebung und dem Geschehen in der Welt bekommt Rikkat wenig
mit. Wie sollte sie auch, ist sie doch mit ihrer Leidenschaft
für diese aussterbende Kunst so sehr der verklärten
Vergangenheit verhaftet, dass sie nicht wahrhaben kann, was sich durch
den Buchdruck wirklich verändert hat.
Wie Yasmine Ghata allerdings diese Kunst, ihre Geister und
Geheimtinten, ihre besonderen Schreibfedern und das Wirken der
verstorbenen Lehrer im Leben ihrer Schüler beschreibt, ist von
großer sprachlicher Schönheit.
Und so ist das Buch insgesamt ein Symbol für die
Zwischenexistenz vieler moderner Muslimas, zwischen den wertvollen
Traditionen ihrer Kultur und der säkularen Welt des Westens,
wo sie aufgewachsen sind und leben.
Ein schönes, ein fremdes Buch, das man mit einer gewissen
Ehrfurcht aus der Hand legt sowie dem Gefühl, dass absolut
notwendige Säkularisierung jedoch auch große,
unwiederbringliche Verluste zu beklagen hat.
(Winfried Stanzick; 04/2007)
Yasmine
Ghata: "Die Nacht der Kalligraphen"
Aus dem Französischen von Andrea Spingler.
Gebundene Ausgabe:
Ammann Verlag, 2007. 154 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Suhrkamp, 2008.
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Ein weiteres Buch der Autorin:
"Die Tār meines Vaters"
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