Gertrud Fussenegger: "Jirschi oder die Flucht ins Pianino"
Dieser Roman beschäftigt sich wieder mit dem Lande "Böhmen"
In den ersten Seiten, in welchen sozusagen als Rahmen des Werkes ein
Schriftsteller ersucht wird, das Leben eines Freundes und Landsmannes,
eben der Hauptperson Jirschi, niederzuschreiben, heißt es darüber:
"Er, der Schriftsteller, hatte es [also das Heimatland Böhmen] als
Deutscher verloren; der andere als Tscheche und obwohl er Tscheche war.
Beide hatten sie die Schicksale Böhmens in ihrer Jugend miterlebt, aus
verschiedenen Blickwinkeln, spiegelbildlich verkehrt. Ihn, den
Schriftsteller, reizte es, einmal den anderen Blickwinkel zu erproben,
die gegensätzliche Position zu beziehen. in diesem Sinn vertauschter
Erfahrung nahm er sich vor, Herkunft und Jugend des anderen zu
beschreiben."
Zweifellos handelt es sich um einen biografisch inspirierten Ansatz,
wobei jedoch der hier gegebene Blickwinkel für die Autorin keineswegs
neu ist, sind doch viele ihrer bisherigen Romanhelden Tschechen oder
Halbtschechen gewesen, allen voran eine ihrer stringentesten Figuren,
der Arzt Viktorin Zeman aus "Das verschüttete Antlitz".
Der Unterschied dieses Romans zu seinen Vorgängerwerken liegt im
zeitlichen Rahmen seines Geschehens. Bisher interessierte die Autorin
eher die Vergangenheit ihres Heimatlandes, das Zusteuern auf
diverse
geschichtliche Ereignisse, zumeist Katastrophen, manchmal aber nicht
immer auf die größte und allereinschneidendste von 1945. Während
Viktorin Zeman in den Schreckenstagen der Monate Mai und Juni dieses
Jahres trotz allem bis dahin Durchlebten im Grunde zur Erfüllung seines
Lebens, ja zur Findung seines wahren Ichs gelangt, indem er einem
bisherigen Feind das Leben rettet, erlangen die Gräuel der
Deutschenaustreibung bei "Jirschi oder die Flucht ins Pianino" keine
zentrale Bedeutung, bleiben eher, allerdings als nie ganz verdrängter
Alpdruck, eine relativ vereinzelte, noch dazu zum Glück von der
Hauptperson nie unmittelbar durchlebte, sondern bloß historisch
wahrgenommene Episode.
Nun bedeutet das bisher Gesagte keineswegs etwa, dass der vorliegende
Roman überwiegend in Böhmen spielt, im Gegenteil, gerade die Absenz von
der Heimat, die Reflexion aus der Fremde ist zentrales Thema. Jirschi
muss als Bourgeois sein Land verlassen und quer über den Erdball sein
Leben fristen.
Gertrud Fussenegger beschreibt humorvoll und mit leiser Ironie eine
authentische Lebensgeschichte voller Dramatik - "so typisch für das 20.
Jahrhundert, in dem der Einzelne oft hilflos in das Rad der Geschichte
geriet" heißt es etwas verfremdend im Umschlagklappentext, denn ohne
der Autorin die Fähigkeit zu Humor und Ironie absprechen zu wollen,
steht doch eine mit Fortdauer des Buches stets Raum gewinnende
Tristesse im Vordergrund. Meiner Meinung nach liegt in der stringenten
Vermittlung von traurigen, dunklen Atmosphären eine der Stärken
Fusseneggers. Für Humor ist da einfach kein Platz, geschweige denn für
Ironie, denn die Autorin ist zu warmherzig, emotionell zu sehr bei der
Sache, um ironische Distanz auch nur aufkommen zu lassen, auch diese
Verbindlichkeit des Erzählens spricht durchaus für sie. Was soll auch
so komisch sein am Schicksal eines armen Flüchtlings, dem es
letztendlich nicht gelingt, in der Fremde Wurzeln zu schlagen, der
scheitern muss, nicht so sehr an eigenem Unvermögen, sondern im Grunde
an der trostlosen Befindlichkeit der Welt an sich, sind doch alle Orte,
an die er verschlagen wird, wie das Ruinendeutschland der späten
Vierzigerjahre, das kulturelle Vakuum Australiens oder der USA ziemlich
unerfreulich, überhaupt wenn man Heimweh nach Böhmen hat.
Der Roman wirkt zunächst kurzatmiger und zusammenhangloser als seine
Vorgänger, wobei er mit Fortdauer gerade daraus gewinnt und eine ganz
charakteristische Stimmung entwickelt. Gerade dann, wenn die ziemliche
Durchschnittlichkeit des Helden offenbar wird, die ihm letztendlich die
Fähigkeit verwehrt, aus seiner (in erster Linie emotionell bedingten)
Lage auszubrechen und Entscheidendes zu leisten. Jirschi ist kein sehr
bedeutender Mann, kein Zweifel, aber verdient er nicht gerade deshalb
umso mehr unser Mitgefühl?
Ein weiterer großer Roman Fusseneggers, wenn darin auch noch leisere
Töne angeschlagen werden, als wir von ihr ohnehin gewohnt sind.
(Franz Lechner; 06/2005)
Gertrud Fussenegger: "Jirschi oder die
Flucht ins Pianino"
Langen Müller, 2005. 272 Seiten.
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Dr. Gertrud Fussenegger, geboren
am 8. Mai 1912 in Pilsen, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und
Philosophie.
Sie wurde durch ihre Gesellschaftsromane bekannt und mit zahlreichen Ehrungen
ausgezeichnet.
Gertrud Fussenegger starb am 19. März 2009 im Alter von 96 Jahren in Linz.
Weitere Bücher der Autorin (Auswahl):
"Zeit des Raben, Zeit der Taube"
"... Seither wurde der dämmernde Abend Zeit des Raben und der dämmernde Morgen
Zeit der Taube genannt."
Zwei Schlüsselfiguren der Moderne, die aus Polen stammende Naturwissenschaftlerin
Marie Curie, Entdeckerin des Radiums, und der Périgorde Léon Bloy, radikaler
Spiritualist und Rebell, leben zur gleichen Zeit in Paris. Obwohl sich ihre
Wege kreuzen, wissen sie nichts oder so gut wie nichts voneinander; dennoch
sind beide auf geheimnisvolle Weise aufeinander bezogen, beide besessen von
ihren Ideen, bereit, sich diesen bis zur Selbstzerstörung aufzuopfern, berühren
sie letzte Fragen der Menschheit und deren Zukunft. Kapitelweise wechselnd erzählt
Gertrud Fussenegger ihre widersprüchlichen Schicksale und entrollt dabei in
dramatischen Szenen ein vielschichtiges Bild der zeitgenössischen Gesellschaft.
In ihrer klaren und unverwechselbaren Sprache lässt sie das Paris der Jahrhundertwende,
die Menschen, ihre Hoffnungen und Ängste lebendig werden. Es stehen sich blinder
Fortschrittsglaube und irrationale Welterfahrung gegenüber - ein Konflikt, der
auch heute nichts von seiner Aktualität verloren hat.
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"Das Haus der dunklen Krüge"
"Das Haus der dunklen Krüge ist das Haus der
Vergangenheit. Es hat viele Kammern, viele Keller, viele Treppen, die in die
Tiefe führen zu verlassenen Gewölben, zu verschütteten Brunnen. Auf dem Grund
dieser Brunnen schlummern die dunklen Krüge."
Mit diesen Worten entfaltet sich das wechselvolle Schicksal der Familie
Bourdanin. Im Mittelpunkt des Geschehens steht der Rittmeister a.D. Bourdanin.
Der düstere, empfindlich stolze Mann heiratet in zweiter Ehe die junge und
unwissende Marie, die von der Liebe zu einem fast Unbekannten in "wilde,
nimmermüde Muttersorge" flüchtet. Die Sprachlosigkeit, in der sie
erstarren, macht die aufkeimende Liebe zwischen diesen beiden Menschen fast unmöglich.
Und doch ist es die stille und duldsame Marie, die die Kraft und den Mut
aufbringt, die Grenzen zu durchbrechen, und einen Weg in die Zukunft weist.
Die Autorin entführt den Leser in eine farbige Szenerie von Schicksalen -
Patrizier, Schausteller, Spekulanten - vor dem Hintergrund der aufbrechenden
Gegensätze der Stadt Pilsen um 1870 und der sterbenden Habsburger Monarchie.
Der Roman wurde seinerzeit zu Recht mit
Thomas Manns "Die
Buddenbrooks" in einem Atemzug genannt: Es ist das meisterhafte Porträt
einer Familie, psychologisch brillant und in bezwingender Sprache - ein Stück
Literatur, wie man es heute kaum mehr findet.
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"Bourdanins Kinder"
Die Kinder des Rittmeisters Bourdanin suchen inmitten der unsicheren Umbruchsepoche
vor dem Ersten Weltkrieg ihren Weg. Zwischen Wien, Pilsen und Galizien entsteht
so das meisterhafte Porträt einer dem Untergang geweihten Ära.
Den Hintergrund dieses Romans bildet das alte Österreich, der Vielvölkerstaat
mit seinen Nationalitätenkämpfen und sozialen Umbrüchen. Und schließlich erfolgt,
im Geist der Postmoderne, das Versprechen eines Kindes, es werde alles Vergangene
erzählen und das Gewesene neu deuten. Denn, wie das Motto des Buches sagt: Nichts
wird bewahrt außer durch
Verwandlung.
Das Leben der Bourdanins geht weiter. Da sind die Kinder, sechs Menschen mit
ganz verschiedenen Schicksalen, weil ganz verschiedenen Charakteren: Rittmeister
Bourdanin, der tyrannische Vater, vereinsamt nach dem Tod des ältesten Sohnes.
Der geprügelte Roderich wird ein Abenteurer, Lily, der man von Kindheit an ein
nur kurzes Leben prophezeit hat, wird eine starke Gestalt voller Lebenswillen.
Marie ist hingebungsvolle Ehefrau und tröstende Vermittlerin zwischen Kindern
und Vater - eine fast unmögliche Aufgabe.
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"Das verschüttete Antlitz"
Ein Arzt wird des Mordes an einem jungen Mädchen verdächtigt. Die Indizien sprechen
gegen ihn, reichen aber für die Erhebung einer Anklage nicht aus. Der junge
Mann wird aus der Untersuchungshaft entlassen und lebt mit dem Makel des Mörders
behaftet weiter, obwohl er den wahren Täter kennt ...
Ein Kriminalfall als Ausgangspunkt für einen spannungsgeladenen Roman über Menschen
aus dem alten Prag und dem ländlichen Nordböhmen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
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