Michel Faber: "Das karmesinrote Blütenblatt"
Viktorianische Masken
"Pass auf, wo du hintrittst! Du musst einen klaren Kopf behalten, wirst ihn noch brauchen. Die Stadt, in die ich dich bringe, ist riesengroß und labyrinthisch, und du bist hier noch nie gewesen. [...] Der Prince of Wales, das kann ich dir versichern, hat nie im Leben einem Bewohner dieser Straße die Hand geschüttelt oder irgendjemand auch nur im Vorbeifahren zugenickt, ja er hat nicht einmal im Schutze der Nacht ein paar Prostituierte Probe gelegen. Denn obwohl die Church Lane mehr Huren beherbergt als nahezu jede andere Straße in London, haben sie nicht das Kaliber, das für Gentlemen taugt. Für Connaisseurs ist eine Frau schließlich mehr als ein Stück Frischfleisch ..."
London 1874, das viktorianische Zeitalter steht in höchster Blüte und mit ihm Prüderie und Prostitution. Sugar ist eine dieser zahllosen Huren, aufgewachsen in der Church Lane, doch sie und ihre Mutter wollten höher hinaus und es gelang ihnen, ein Bordell in der Silver Street zu eröffnen, ein Bordell, das auch bessere Herren zu frequentieren pflegen.
William Rackham, Erbe der Rackham Parfumeries, ein Dandy wie Oscar Wilde, doch beileibe nicht so geistvoll, auch kein Homo, wohl aber begeisterter Puffgänger mit Geldsorgen. Sein Vater dreht ihm den Geldhahn zu, damit er endlich die Leitung des Betriebes übernimmt, etwas, was ein Mann von Welt, ein Gentleman eben, nie tun würde. Wer gibt sich schon mit niederer Arbeit ab, wenn er so stilvoll ist wie William? Doch wegen des Geldmangels musste er bereits die Zahl der Dienstboten auf sechs verringern und auch das reicht nicht. William hat Sorgen, ernste Sorgen.
Er liest in den "Londoner Lustbarkeiten" von Sugar "Besonders versiert ist sie in der Kunst der Konversation und ganz eine würdige Gesprächspartnerin für jeden wahren Gentleman. Sie verlangt 15s, doch für eine Guinee vollbringt sie wahre Wunder." Er trifft sie im Fireside, "keine Angst, Sir. Sie haben die richtige Wahl getroffen. Ich mache alles, was sie von mir verlangen.", sagt sie zu ihm. Sie verplaudern den ganzen Abend. In ihrem Bett schläft er ein und die vielen Biere führen dazu, dass er das Bett dabei vollpinkelt. Das macht nichts, sagt Sugar, die von Herren einiges gewohnt ist und bezieht es ungerührt neu.
In ihrer Freizeit schreibt sie einen Roman. Eine Prostituierte, die Ich-Erzählerin, lockt Männer an einsame Orte, fesselt sie dort und bringt sie qualvoll um.
Auch William gibt sich als Autor und Kritiker aus, doch anders als Sugar schreibt er höchst selten. Nach dem er bei Sugar Stammkunde wurde, wird ihm endgültig klar, dass er die Leitung des väterlichen Betriebes übernehmen muss, will er nicht endgültig seiner finanziellen Privilegien verlustig gehen. Und damit beginnt sein Aufstieg, finanziell, charakterlich und auch erotisch. Er richtet Sugar ein eigenes Apartment ein, überschüttet sie mit Aufmerksamkeiten, und Sugar ist selig. Nie mehr Church Lane! Doch das sagt sie nicht, sie säuselt ihm erotische Phrasen ins Ohr und Orgasmen, die beide so falsch sind, wie Williams "Ich bin Autor"-Attitüde.
Überhaupt spielt hier jeder ein Spiel, setzt jeder eine Maske auf, niemand würde es wagen sein wahres Gesicht zu zeigen. Oscar Wilde nicht und auch keine der Personen dieses Buches. Den Schein wahren ist die Devise von Williams Frau, Williams Bruder, den Dienstboten, Sugar und natürlich William selbst.
So enthält das Buch wenige schlüpfrige Stellen, aber viel Ironie und eine Traurigkeit, die aus dem viktorianischen Leben stammt. Manchmal erinnert es an die heutige Mediengesellschaft, in der auch fast jeder den Bohlen spielt, so gut er kann.
Der Ton der Erzählung, der Erzähler, der seine Leser direkt anspricht, der alles weiß, über allem schwebt, der Ton ist es, der den Leser zusätzlich tief in dieses Zeitalter versinken lässt. Der Roman handelt nicht nur vom viktorianischen England, er klingt wie ein Roman aus dieser Zeit.
Und am Schluss? Am Schluss, nach über tausend Seiten, muss der Leser sich vom Erzähler verabschieden, "Doch jetzt ist es Zeit, dass du mich gehen lässt." Aber wie zum Trost hat Michel Faber der Geschichte vorher noch eine ganz unerwartete Wendung gegeben.
Michel Faber, 1959 in Holland geboren, wuchs in Australien auf und lebt heute im schottischen Hochland.
(Hans Peter Roentgen; 06/2004)
Michel Faber: "Das
karmesinrote Blütenblatt"
List Verlag, ISBN 3-471-77560-9,
aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring und Claus Varrelmann
1056 Seiten, gebunden,
ca. EUR 24,90.
Buch bestellen
Taschenbuch:
List, 2004. 1120 Seiten.
ISBN 3-548-60478-1.
ca. EUR 11,30.
Buch bestellen
Ergänzende Buchempfehlung:
"Die Weltenwanderin"
Junge Frau sucht gut gebaute männliche Anhalter Tag für Tag fährt Isserley,
eine junge Frau mit Brille und enormen Brüsten, in ihrem Toyota Corolla durch
das schottische Hochland, stets auf der Suche nach Anhaltern. Männer müssen
es sein, am besten gut gebaute Exemplare. Die meisten lassen sich nicht lange
bitten und steigen gern zu Isserley in den Wagen. Sie können nicht ahnen, dass
sie nie wieder in ihr altes Leben zurückkehren werden. Was wie ein Thriller
beginnt, entwickelt sich zu einer Geschichte voller überraschender Wendungen.
Nur so viel sei verraten: Isserley ist keineswegs auf
Sex aus, auch wenn ihre
Motive durchaus mit menschlichem Fleisch zu tun haben. (Kiepenheuer & Witsch)
Buch
bestellen