Urs Fuhrer: "Lehrbuch Erziehungspsychologie"
Erziehung in der Postmoderne
Bereits über den Terminus
"Erziehung" ließ sich schon immer trefflich streiten, geschweige denn
über deren Notwendigkeit! Ob Pink Floyd in "the wall" oder ob populäre Pädagog/innen:
manch eine/r hat schon "Beziehung statt Erziehung!" gerufen und die positive
Wirkung von Erziehung leidenschaftlich in Frage gestellt!
Die Diskussion hat sich aber glücklicherweise immer deutlicher auf den Inhalt
und den Stil von Erziehung verlagert und damit weg von der Frage nach deren
grundsätzlicher Berechtigung. Gegen Erziehung im Sinne von "Anregung, Begleitung
und Unterstützung kindlicher Entwicklung" braucht man heute nicht mehr Sturm
zu laufen.
Auf den ersten Blick sieht ein "Lehrbuch Erziehungspsychologie" nicht nach Bahn brechendem Pionierwerk aus. Wer sich allerdings auf dem Markt der psychologischen Fachliteratur etwas auskennt, weiß, dass sich kaum ein Werk umfassend den psychologischen Grundlagen der Erziehung widmet, einmal abgesehen vom gleichnamigen Standardwerk von Tausch/Tausch, das in seiner Erstausgabe bereits 1963 erschienen ist.
Höchste Zeit also, das vorhandene Wissen systematisch zu sammeln und in einem attraktiven Lehrbuch gut verständlich und strukturiert aufzubereiten?
Dr. Urs Fuhrer (55, Schweizer) begann seine akademische Laufbahn 1967 mit dem Besuch des Lehrerseminars Muristalden in Bern und studierte anschließend Psychologie, Pädagogik und Sportwissenschaften. 1994 wurde er als Ordentlicher Professor für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an die Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg berufen.
Die Fachbeiträge und wissenschaftlichen Werke, die Urs Fuhrer seit 1975 publiziert, umfassen ein breites thematisches Spektrum: So fand etwa seine Forschungsarbeit im Bereich der Öko- und Wohnpsychologie große Beachtung. Auch seine Lehraufträge zum Thema "Mensch-Computer-Interaktion" oder seine Beratertätigkeit als Sportpsychologe belegen, dass sich Fuhrer eine eindrückliche psychologische Fachkompetenz aufgebaut hat, die in der thematischen Breite beinahe einmalig scheint.
Seine Erziehungspsychologie
entwirft der Autor auf der Basis des vorhandenen Forschungswissens und bettet
sie gleichsam als einen eigenen Baustein in den übergeordneten Kontext der Entwicklungspsychologie
ein. Er umschreibt dabei die Erziehung mit dem Anliegen, "Fähigkeiten und
Entwicklungspotenziale der Kinder zu stärken und die Faktoren und Prozesse,
die Verhalten und Entwicklung gefährden, zu vermeiden oder zu kompensieren."
Die Schwerpunkte seines Lehrbuches liegen auf der elterlichen Erziehung in der
Familie, auf dem Verständnis der Familie zur
Schule
sowie der Bedeutung der Gleichaltrigen.
Neben der wissenschaftlichen Abhandlung steht immer wieder der Bezug zur Praxis im Vordergrund. Spannend und greifbar wird das Buch dort, wo Forschung und Erfahrung zu fundierten Thesen führen, die pädagogisches Handeln direkt beeinflussen und somit konkret dem Kind zu Gute kommen sollen. "Je mehr gemeinsames Tun in der Familie stattfindet, umso höher das subjektiv beurteilte Kindheitsglück", ist prägnant formuliert eine solche Folgerung.
Der Autor legt Wert darauf, die Inhalte auf die aktuellen Veränderungen unserer Lebenswelten abzustimmen: So widmet er unter anderem den nicht traditionellen Familienformen und ihren Folgen und der Erziehung in Familien ausländischer Herkunft je ein eigenes Kapitel.
Sein Beitrag zur Rolle des Fernsehens wird möglicherweise Anlass zu Diskussionen geben, speziell sein Plädoyer für eine Medienpädagogik, welche in dieser Form von anderen renommierten Fachleuten, wie etwa dem Neurologen Manfred Spitzer, pointiert in Frage gestellt wird. Trotzdem: seine "Implikationen für die Erziehungspraxis" in diesem Kapitel sind wohl nicht grundsätzlich neu, aber allemal relevant und praktikabel.
Wer alle fünfzehn Kapitel aufmerksam gelesen hat, wird wohl feststellen können, dass der Autor sein Hauptziel, welches er eingangs formuliert, mehr als erreicht: "Es geht in diesem Buch darum, Eltern, Lehrpersonen und Erzieher/innen zu stärken, ihnen Mut zu machen - Mut zur Erziehung!"
Optisch ist das Buch übrigens bemerkenswert attraktiv gestaltet: Die hellblauen Titelbalken und die übersichtlichen, durch grauen Hintergrund klar bezeichneten Erklärungs- und Definitionskasten schonen das Auge und erhalten die Freude am Lesen.
Studierende, sowie Fach- und Lehrpersonen, werden das vorliegende Lehrbuch mit großem Gewinn anschaffen. Es wird sich, da es in seiner inhaltlichen Akzentuierung tatsächlich Pionierarbeit präsentiert, nicht einfach, hektisch überflogen, ins Regal zwischen unzählige andere gute und schlechte Lehrbücher einreihen lassen. Um im Studium, in erster Linie aber in der Alltagsarbeit mit Kindern und Jugendlichen, der Reflexion und Inspiration Anstoß zu geben, wird es auf unseren Pulten einen prominenten Platz erhalten und griffbereit bleiben!
(André Kesper; 02/2005)
Urs Fuhrer: "Lehrbuch
Erziehungspsychologie"
Verlag Hans Huber 2005
ISBN 3-456-84122-1; 415 Seiten
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