Sven Hanuschek: "Elias Canetti"
Die
erste Biografie des Nobelpreisträgers Elias
Canetti:
800 Seiten, hiervon rund 100 Seiten Quellennachweise, Bibliografie und
Register
Sven Hanuscheck, 1964 geboren,
ist Publizist und lehrt am Institut für Deutsche Philologie
der
Ludwig-Maximilians-Universität in München. Neben den
Publikationen Canettis
standen ihm die zum zehnten Todestag Canettis testamentarisch
freigegebenen
Aufzeichnungen zur Verfügung. Ein erklecklicher Teil seiner
Aufzeichnungen
bleibt bis 2024 unter Verschluss.
In einem bulgarischen Dorf namens Rustschuk wird am 25. Juli 1905 in
einem sephardischen Elternhaus Elias Canetti geboren. Bis 1911
durchlebte er eine glückliche Kindheit, und damit ist das
Normale in seiner Biografie für lange Zeit erst einmal zu
Ende. Erst runde 60 Jahre später kehrt so etwas wie
Normalität ein. Doch der Reihe nach.
1911 wandert die Familie nach
Manchester aus. Im folgenden Jahr stirbt der innig geliebte Vater, und
Elias
Canettis Mutter zieht mit den Kindern nach Wien. Hier lernt Canetti bei
seiner
untalentierten, aber gestrengen Mutter innerhalb weniger Wochen
Deutsch. Bereits
vier Jahre später begibt sich die Familie nach
Zürich. Der kleine Elias, der
immer ein ausgezeichneter Schüler war, fühlt sich
hier sehr wohl und gedeiht
prächtig, doch die Mutter sticht der Hafer und sie ziehen nach
Frankfurt um.
Dort trennen sich nach dem Abitur ihre Wege, denn seine Mutter zieht
mit dem
Rest der Familie nach Paris und Elias Canetti kehrt nach Wien
zurück. Dort
beginnt er ein Chemiestudium, das er 1929 mit Promotion
abschließt, obwohl
absehbar ist, dass ihm Wortketten mehr zusagen als
Molekülketten.
Und nun führt der Autor den
staunenden Leser durch eine Vita, bei der man zwangsläufig ins
Staunen kommt
und über den Begriff des Normalen nachzudenken beginnt.
Während die meisten Männer
mit ihrer jeweiligen Ehefrau vollauf beschäftigt sind, pflegt
Canetti zeitweise
eine ménage à quattre, also er, seine Ehefrau
Veza
(Venetiana Taubner-Calderon) Canetti sowie Friedl Benedikt und
Marie-Louise von
Motesiczky als offen geführte Nebenverhältnisse, doch
diese beiden waren
beileibe nicht die Einzigen. Dabei lässt er sich fast 40 Jahre
lang von allen möglichen
Personen und Institutionen aushalten. Seine erste Ehefrau Veza
marschiert
hierbei ständig am Rande des Suizids neben ihm her. Geld
verabscheut er -
zumindest solange er keines hat. Erst im Alter von 65 Jahren kann er
zum ersten
Mal von seinen Einkünften als Schriftsteller leben. Doch als
sich nach dem
Nobelpreis seine Bücher verkaufen wie warme Semmeln, entpuppt
er sich als
begabter Verhandlungsführer in Sachen Canetti und erreicht
(erpresst?)
Garantieauflagen, die auf Verlagsseite teils schon gewagt waren.
Zu keinem Zeitpunkt kommt ihm
anscheinend ein Zweifel an der Richtigkeit seines Weges auf. Ein
Kostprobe:
"Wenn ich nicht ein
Rabelais
Brueghel
Aristophanes Goya
Nestroy Shakespeare
[...] unserer Zeit werde, töte entleibe vergiftersticke [...]
verbrenne ich
mich selbst." Es heißt nicht disjunktiv Rabelais, Brueghel,
Aristophanes,
Goya, Nestroy oder Shakespeare, sondern sie addieren sich scheinbar.
Ein Mensch
mit diesem Selbstbewusstsein müsste eigentlich auch fliegen
können, wie Hermes
oder Peter Pan.
Und im Übrigen war er ein
liebenswürdiger Zeitgenosse, der alle respektierte und
für jeden ein
freundliches Wort hatte? Weit gefehlt. Da ist die Rede von
Nietzsche-Feindschaft, von dem Feind [Heimito von] Doderer.
Eine sehr persönliche und teils öffentliche
Auseinandersetzung führte er mit
Thomas
Bernhard. Und sein einstiges Vorbild
Karl
Kraus setzte er gar mit Hitler gleich ("[...] so
beschränkt und
beinahe so ungebildet wie dieser"), weil Kraus kurzzeitig Schuschnigg
unterstützte (in der irrigen Hoffnung, damit Hitler aus
Österreich
heraushalten zu können). Und ein Freund der letzten Tage in
Zürich erzählte,
man hätte Canetti in der Öffentlichkeit jederzeit
angesehen, dass er nicht
angesprochen werden möchte. Erst in der Zeit der
Nobelpreisverleihung scheint
er mit immerhin 75 Jahren nach außen etwas konzilianter
aufgetreten zu sein,
dem Alter entsprechend, werden wohl einige vermutet haben. Doch er
vermerkte in
seinen Aufzeichnungen "Zahmheit adieu. Sei wieder du selbst.". Das tat
er auch prompt und verglich MRR
mit einem stalinistischen Geheimdienstchef.
Und dennoch fasziniert er durch
sein Werk, insbesondere "Die Blendung", "Masse und Macht"
und "Die Stimmen von Marrakesch", die in keiner gut sortierten
Bibliothek fehlen sollten. Doch neben seinem publizierten Werk hat er
wohl eine
Unmenge von Aufzeichnungen geführt, teils thematisch
gegliederte
Materialsammlungen, teils Kommentierungen des Zeitgeschehens, Notizen
zur Lektüre
und auch viele Briefe. Und so wird ihm 1981 der Nobelpreis verliehen
"für
ein schriftstellerisches Werk geprägt von Weitblick,
Ideenreichtum und künstlerischer
Kraft."
Im Frankfurt des Jahres 1922
erlebt er eine politische Demonstration zum Anlass der Ermordung
Walther
Rathenaus: "Und da wurde ich zum ersten Mal selbst ein
Mitglied, ein Angehöriger
einer Masse. Ich spürte plötzlich, dass etwas mit mir
geschieht. Ich war sehr
aufgeregt. Ich verstand nicht, was mit mir geschieht. Und eigentlich
von diesem
Augenblick an habe ich mich immer gefragt, was eine Masse eigentlich
ist."
Das ist die Geburtsstunde einer lebenslangen Beschäftigung mit
dem Phänomen
Masse und Macht. 1960 erscheint sein publizistischer Abschluss in
Buchform, aber
in seinen Aufzeichnungen lebt das Thema weiter.
Canettis Werke enthalten keine ausgeprägt politischen
Komponenten und er selbst betrieb auch keinen aktiven Wahlkampf - im
Gegensatz zu dem einen oder anderen
Nobelpreisträger-Kollegen.
Dennoch war er nicht unpolitisch, wie könnte ein intelligenter
Mensch auch unpolitisch sein? Reagan unterstellte er, dass er die Welt
in die Luft jage. Maggie Thatchers Falkland-Krieg fand auch nicht seine
Zustimmung. Er verweigerte sich wiederholten Einladungen nach Israel,
solange kein Friede zwischen Juden und Palästinensern herrsche
- korrekterweise müsste es heißen Juden und Moslems
oder Israelis und Palästinensern. Bewunderung zeigte er
für Willy Brandts Kniefall in Warschau: "Was er [Brandt]
für die Deutschen in der Welt ist, könne nur sehr
wenige von ihnen beurteilen. [...] Ein Deutscher, der sich heute zu
Brandt stellt, ist vom Aussatz kuriert und kann sich ohne Scham
überall stellen."
Der "Anschluss" Österreichs
an Hitler-Deutschland im Jahre 1938 veranlasste ihn, mit seiner Ehefrau
Veza über
Paris nach England auszuwandern. 1963 stirbt Veza, seine
langjährige Ehefrau
und Partnerin. Er hatte sie anscheinend wirklich geliebt, trotz nahezu
ständiger
paralleler Geschichten. In Folge verlagert er seinen Lebensmittelpunkt
sukzessive nach Zürich. Im Jahre 1971 heiratet er Hera Buschor
und im darauf
folgenden Jahr kommt deren gemeinsame Tochter Johanna zur Welt. Doch
bereits
1988 stirbt Hera Canetti an Krebs. Elias Canetti ereilt der Tod am 14.
August
1994. Die Beisetzung fand ohne Öffentlichkeit in
Zürich-Fluntern statt, wo
sein Grab neben dem von James Joyce liegt.
Die vorliegende Biografie ist
sehr gut zu lesen, und dass einem der Biografierte gelegentlich schwer
verdaulich im Magen liegt, ist natürlich nicht dem Biografen
anzulasten. Der
Autor hält sich in seiner Bewertung der Person weitgehend
zurück, einzig
Canettis Todes-Gegnerschaft scheint ihn ein wenig genervt zu haben.
Canetti
machte sich tatsächlich über lange Zeit so seine
Gedanken, wie der Tod überwunden
werden könne. Dabei schwebten ihm keine kybernetischen
Organismen vor, sondern
eine Art des Wegdiskutierens.
Auch wenn sich die Sympathie für
den Menschen Canetti in Grenzen halten sollte, so muss man dem
Literaten doch
Respekt zollen. Und zumindest eine Auswahl seiner Werke zu lesen,
scheint keine
schlechte Idee zu sein, denn er hat nahezu jeden bedeutenden
Literaturpreis
erhalten.
(Klaus Prinz; 04/2005)
Sven
Hanuschek: "Elias Canetti"
Hanser, 2005. 800 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Lien:
https://www.elias-canetti.de/
Einige
Buchtipps:
"Elias Canetti. Bilder aus seinem Leben"
Das Bilderbuch zu einem europäischen Jahrhundertleben:
Ergänzt
durch Texte von und über Canetti, zeigt es Aufnahmen von
Menschen, Kunstwerken
und Schauplätzen, die für Elias Canetti von Bedeutung
waren - familiäre
Studiofotos aus der Zeit um die Jahrhundertwende,
Schnappschüsse aus dem
Freundeskreis, Porträts geliebter Frauen. Die umfassende
Chronik größtenteils
unveröffentlichter Fotografien wirft Schlaglichter auf Elias
Canettis Leben
zwischen Intellektuellen und Künstlern, auf Orte wie
Zürich, Wien, Berlin, über
Marokko bis Paris und London. (Hanser)
Buch
bei amazon.de bestellen
Penka
Angelova: "Elias
Canetti - Spuren zum mythischen Denken"
Penka Angelovas Buch widmet sich
Canettis
"Aufzeichnungen" und seinem großen
anthropologischen Buch "Masse und Macht". Die Autorin wählt
verschiedenste Zugänge, um dem vielfältigen, nicht in
ein System zu pressenden Denken Canettis gerecht zu werden. Sie greift
weit aus in die verschiedenen Disziplinen und Diskurse von der
Literaturwissenschaft bis zur Philosophie, Psychologie und Geschichte
und wagt die These, dass Canetti mit einem neuen Menschenbild die
kulturale Wende der westlichen Welt vorweggenommen hat. (Hanser)
Buch
bei amazon.de bestellen
Werner
Morlang (Hrsg.): "Canetti
in Zürich. Erinnerungen und Gespräche"
Als der junge Elias Canetti 1921 Zürich, wo er fünf
Jahre
lang das Gymnasium besucht hatte, verlassen musste, empfand er diese
Zumutung
als Vertreibung aus dem Paradies. Fünfzig Jahre
später ist er in diese
"Stadt, an der ich sehr hänge", zurückgekehrt und hat
in ihr bis zu
seinem Tod 1994 gelebt. (Nagel & Kimche)
Buch
bei amazon.de bestellen
Elias
Canetti: "Masse und Macht"
Masse und Macht sind Schlüsselbegriffe zum
Verständnis unseres Zeitalters. Schon der junge Canetti war
fasziniert und beunruhigt von den Phänomenen, die sich mit
diesen Begriffen benennen lassen. Das Leben der Menschen folgt
eigenartigen Gesetzen. Bereits als Kinder gehorchen wir den Befehlen
unserer Erzieher. Früh sind wir angehalten, "freudig" unsere
Pflicht zu tun. Aber auch die Gesellschaft im Ganzen ist dem
zwanghaften Mechanismus von Befehl und Gehorsam ausgesetzt. Um
miteinander auszukommen, folgt die Masse bestehenden Gesetzen, doch
kennt die Geschichte auch genügend Beispiele, wo die Massen
blind dem Diktat eines Tyrannen oder einer Weltanschauung folgen. Aber
Vorsicht! Massen entwickeln gelegentlich eine Eigendynamik - sie
können aufhetzen und Minderheiten verfolgen, Könige
oder Regierungen stürzen und selber die Macht für
sich beanspruchen. Aus geknechteten Einzelnen bildet sich
plötzlich
eine
revolutionäre Masse: Sklaven erheben sich gegen ihre
Kolonialherren, Farbige gegen Weiße, Arbeiter gegen
Unternehmer.
In seinem philosophischen Hauptwerk beschäftigt sich Canetti
mit diesen
Problemen. Kühn im Denken und von einer einzigartigen
stilistischen Brillanz
zieht der Autor uns von der ersten Seite an in seinem Bann.
Anthropologische,
soziologische und psychologische Aspekte durchdringen die essayistische
Untersuchung gleichermaßen, und der Leser spürt,
dass hier seine Sache
verhandelt, über sein Schicksal nachgedacht wird.
Buch
bei amazon.de bestellen
Elias
Canetti: "Die Blendung"
Dieser 1935 in Wien zum erstenmal veröffentlichte, aber von
ungünstigen
Zeitumständen in seiner Wirkung behinderte Roman ist auf
Umwegen über England,
Amerika und Frankreich, in die deutsche Literatur
zurückgekehrt, in der er
heute einen wichtigen Platz einnimmt.
Wie "Ulysses"
von James
Joyce, mit dem die Kritik Canettis Buch immer wieder
verglichen hat, ist "Die Blendung" im Grunde eine mächtige
Metapher für die Auseinandersetzung des Geistes mit der
Wirklichkeit, für Glanz und Elend des einsam reflektierenden
Menschen in der Welt. Protagonist der Handlung ist Kien, ein
berühmter Sinologe, der in seiner 25 000 Bände
umfassenden Bibliothek ein grotesk eigensinniges Höhlenleben
führt. Seine Welt ist im Kopf, aber sein Kopf ist ohne Sinn
für die Welt. Als Kien, von seiner Haushälterin
Therese zur Ehe verführt, mit den Konventionen und Tatsachen
des alltäglichen Lebens konfrontiert wird, "rettet" er sich
gewissermaßen in den Irrsinn.
Buch
bei amazon.de bestellen