Ibrahim Dschabra Dschabra: "Das vierzigste Zimmer"

Irgendwo im Nirgendwo: Dunkle Romantik und kafkaeske Albtraumnovelle


Eine alte Geschichte erzählt von der Liebe eines Prinzen zu einer Frau aus dem Volk. Seine Liebe zu ihr war so groß, dass er der Angebeteten zur Hochzeit ein Schloss schenkte, das aus vierzig Räumen bestand. Neununddreißig davon stünden ihr zur Verfügung, nur der vierzigste sei zu betreten verboten. Anfangs hielt sich des Prinzen Gemahlin an diese Regel, doch ihre Neugier auf das Verbotene wuchs. Eines Tages zerschlägt sie mit einem gewaltigen Hammer die Tür zum 40. Zimmer. Was sich ihrem Blickfeld ausbreitet, ist nicht etwa ein einziger Raum, sondern eine Vielzahl von einander abzweigender, ineinander mündender Korridore und Zimmer - ein wahres Labyrinth. Dschabra Ibrahim Dschabra knüpft mit "Das vierzigste Zimmer" an diese arabische Überlieferung an, moduliert sie auf beängstigende Weise zu einem Tauchgang in die Tiefen der Psyche, lässt die Konturen von Traum und Realität auf kafkaeske Weise zerrinnen.

Die Handlung nimmt ihren Anfang mit einem Mann, dem Erzähler, der kurz vor Einbruch der Dunkelheit einen weiten menschenleeren Platz überqueren möchte. Mitten in Alleinsein und Stille rast - wie aus dem Nichts - ein Lastwagen. Ein Mann im schwarzen Mantel erscheint. Der LKW hält, und der Unbekannte in schwarz fordert den Erzähler zum Einsteigen auf. Dieser lehnt mit mulmigem Gefühl ab. Auf der Ladefläche des Lasters nimmt er dicht gedrängt Menschen wahr; oder sind es nur Schemen?: "Ich sah wohl auch keine wirklichen Gesichter, sondern eher Dutzende von einander ähnlichen, verschwommenen Masken." Klar zu erkennen ist lediglich eine verlockend attraktive Frau. Mit frivoler Mimik und hoch gehobenem Rock ködert sie den Erzähler zum Mitfahren; er widersteht, der LKW fährt weg.

Nur Minuten später hält ein Mercedes mit derselben Verführerin am Steuer. Diesmal steigt der Erzähler ein und ab geht die Fahrt ins Unbekannte. Auf dem Weg zu einem monumentalen Gebäude, irgendwo im Nirgendwo, spielt die Schöne erneut ihre körperlichen Reize aus, gewährt dem Erzähler sie zu berühren, sichtbar amüsiert von dessen Gefühlschaos. Letztlich im beklemmenden Haus angekommen, verschwindet sie im Nu, um optisch verändert später wiederzukehren und erneut ihre sexuelle Angel auszuwerfen, freilich ohne die letzte Erfüllung zu gestatten. Nicht nur diese mysteriöse Frau hält uns Dschabra Ibrahim Dschabra zu enträtseln an, sondern auch sadistische Bürokraten, seltsame Festgäste oder entseelt blickende Gefangene.

Wofür steht dieses Schreckensgebäude? Ist es ein Kerker für politisch Missliebige, eine Anstalt für Geisteskranke, der Alltag, das Innerste der menschlichen Psyche? Abschließende Antworten darauf scheint es nicht zu geben. Das merkt auch unser Erzähler, der erfährt, er sei ein angesehener Denker mit vielen Namen. Ein ihm zu Ehren gehaltener Festakt gerät im Handumdrehen zum Gerichtsprozess, die Partygäste mutieren zu Anklägern. Ebenso abrupt wie er entstand, löst sich der Eklat wieder auf. Türen öffnen sich, die nicht immer da gewesen zu sein schienen, wogegen Vorhänge aufgezogen werden, die statt einem Fenster Betonwände zum Vorschein bringen. Und stets aufs Neue erscheint die verlockende Verführerin, deren Name Afra, aber auch Lamya ist. David Lynch ("Mulholland Drive") lässt grüßen.

Im Schlusskapitel sieht der Erzähler sein alter ego auf einem Operationstisch liegen, zur Sezierung bereit. Er selbst steht daneben, betrachtet von neugierigen Studenten und der lasziven Lamya. Autor Dschabra gibt eine Interpretationsvariante seiner albtraumhaften Novelle selbst vor: "Jener entzweigeschnittene Mann, (...), ist der Mensch, der versucht, beide Seiten seiner Existenz mit eigenen Augen zu sehen und zusammenzufügen: das Bewusste und das Unbewusste, Verstand und Instinkt, Realität und Vision." Beide Hälften sind halb, gleichzeitig aber eins - und das zur selben Zeit. Ein Wesen voller Lust und Leidenschaft für das Leben, die im Innersten schlummernde "Bestie" der Kreativität will Dschabra Ibrahim Dschabra im Leser entfesseln; ein gespaltenes wie vereintes Individuum, das neben dem anarchisch Schaffenden auch Verstand und Logik walten lässt. Dschabra fordert uns auf, die neununddreißig Kammern des Alltags hinter uns zu lassen und mit dem Hammer der Fantasie die Pforte zum Unbewussten zu zerschmettern.

Ein waghalsiger Versuch, der in der Figur der Lamya grandios gelingt. Ihr Äußeres wirkt mit jedem Auftritt verändert und doch gleich; ihr Inneres verführt, weckt Begehren jenseits der Vorstellungen. Ihr sarkastischer, messerscharfer Verstand rundet die "Bestie" ab.. Lamya, der Seelenvampir, der Succubus, die Verführerin wie Befreierin, welche zum Eintritt ins 40. Zimmer verleitet und wohl auch den einzigen Ausweg daraus zu weisen imstande ist.

Dschabra Ibrahim Dschabra wurde 1920 in Bethlehem geboren. In Cambridge studierte er englische Literatur, übertrug Gedichte der britischen Romantiker ins Arabische und übte Lehrtätigkeiten in Oxford wie Harvard aus. Nach der Gründung des Staates Israel, 1948, hat er seine Heimat Palästina verlassen und den Wohnsitz in Bagdad aufgeschlagen, wo der Romancier 1994 auch starb. Dschabra sah sich selbst als vereinsamten Intellektuellen, missverstanden, verfolgt von den Wirren des Krieges. In "Das vierzigste Zimmer" (1986) vereint Dschabra Elemente der Dunklen Romantik, der gothic novel, mit den vor Ohnmacht schwangeren Traumsequenzen Kafkas und der visionären Zeitkritik Huxleys oder Orwells; von allen das Beste, wenn man so will.

(lostlobo; 05/2004)


Ibrahim Dschabra Dschabra: "Das vierzigste Zimmer"
(Originaltitel "al-Ghuraf al ukhra")
Aus dem Arabischen von Heiko Wimmen.
Lenos. 135 Seiten.
ca. EUR 17,-. Buch bestellen

Ergänzender Buchtipp:

Dschabra Ibrahim Dschabra: "Der erste Brunnen"
Ein autobiografischer Bericht.
In Betlehem, diesem Schmelzpunkt dreier Weltreligionen, aber auch Ort des ewigwahrenden Konflikts zwischen Orient und Okzident, wuchs der Autor als Sohn armer arabischer, der christlichen Tradition stark verbundener Eltern auf. Eindrücklich und farbig schildert er seinen ersten Lebensabschnitt, der für ihn "eine magische Anziehungskraft besitzt, die ewig rätselhaft bleiben wird".
Buch bestellen