Markus Christian Schulte von Drach: "Furor"


Das menschliche Gedächtnis auf einer CD

Christian Raabe war Wissenschafter und befasste sich mit dem Gehirn. Der Kern seines Lebenswerkes war es eine Möglichkeit zu finden, Erinnerungen direkt aus einem Gehirn auf ein externes Speichermedium zu übertragen, die dann von jedem beliebigen Menschen wieder erlebt werden können. Bisher gelang das jedoch nur mit den Gehirnen bereits Verstorbener. Seit einiger Zeit allerdings forscht Raabe im Geheimen, und niemand weiß woran. Kurz bevor er stirbt (war es nun Selbstmord oder doch Mord?), beauftragt er telefonisch seinen Sohn Sebastian mit der Löschung sämtlicher Daten von seinem Computer.

Sebastian, der nie sonderlich gut mit seinem Vater konnte, macht sich daran die ihm übertragene Aufgabe zu erfüllen, aber dann kommt auch ihm die Idee, dass daran etwas faul sein muss, und so sichert er diese Daten weg, um sie an sich zu nehmen, erst danach vernichtet er sie auf dem Rechner seines Vaters. Zu seiner großen Überraschung beweisen die Daten, dass es seinem Vater gelungen ist, Aufzeichnungen aus dem Gehirn eines Lebenden zu sichern - nämlich die von Christian Raabe. In diesen Erinnerungen findet der junge Mann auch Bilder eines schrecklichen Massakers, für das auch sein Vater verantwortlich zeichnete - er hatte mit Anderen an einer psychoaktiven Droge gearbeitet. Irgendwie spielen der Geheimdienst und die Arbeitskollegen seines Vaters eine Rolle.
Welche? Das will Sebastian herausfinden.

Die Möglichkeit der Speicherung von Erinnerungen außerhalb des Körpers ist gewiss noch ferne Science Fiction, die Art wie der Autor das allerdings ins Heute und Jetzt versetzt, mutet recht hanebüchen an. Lässt man sich aber auf dieses Konzept ein, so bietet der Roman sehr gute Unterhaltung.

Sprachlich ist der Roman in Ordnung, hebt sich allerdings nicht von der breiten Masse ab. Stellenweise allerdings kann man erkennen, dass der Autor wirklich das Zeug zu einem ganz Großen hat. Die Charakterisierung der Personen ist gut gelungen, sie werden sehr lebensnah geschildert. In diesem Zusammenhang hat der Autor anfangs allerdings wirkliche Schwierigkeiten die Handlung voranzutreiben, stellenweise werden auf den ersten sechzig Seiten einfach zu viele Nebensächlichkeiten erzählt, die für den Handlungsstrang völlig unerheblich sind. Wenn hier Kritik durchklingt, so muss man allerdings berücksichtigen, dass die positiven Seiten bei weitem überwiegen, zumindest in den letzten drei Vierteln des Werkes.

Abgesehen von diesen lässlichen Sünden ist das Buch stilistisch sehr gut gemacht und macht Lust auf weitere Werke des Autors. Es ist immerhin Markus Christian Schulte von Drachs Erstling, und aus dieser Sicht muss man es als sensationell gut einstufen - er kann unschwer mit Dan Browns Debütroman "Diabolus" mithalten.

(Reinhold Stansich; 04/2005)


Markus Christian Schulte von Drach: "Furor"
dtv, 2005. 359 Seiten.
ISBN 3-423-24440-2.
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Markus Christian Schulte von Drach, Jahrgang 1965, ist promovierter Biologe, Dissertation bei Hubert Markl, früherer Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. Er arbeitet als Politikredakteur bei 'sueddeutsche.de', zuvor war er als Wissenschaftsjournalist u. a. für die 'Süddeutsche Zeitung', die 'Berliner Zeitung', 'Neue Zürcher Zeitung', 'Die Welt' tätig. Der Autor lebt in München.

Leseprobe:

Ein grünes Licht blinkte an der Decke über der Tür, die sich jetzt leicht nach innen drücken ließ. Sebastian trat ein in die Kathedrale der Erinnerungen, wie er das Zentrum für sich nannte. Was hier vor ihm lag, war einzigartig in der Welt. Während die Tür hinter Sebastian wieder ins Schloss fiel, flammten brummend die Deckenlampen im Gang vor ihm auf, eine nach der anderen. Zu Sebastians Rechter mündete eine Tür, hinter der sich die Bibliothek befand. Hier ruhten die Erinnerungen all derjenigen, die sich bereit gefunden hatten, ihren Gedächtnisinhalt abspeichern zu lassen, oder von jenen, die so wichtig und interessant erschienen waren, dass die Prozedur auch ohne ihre vorherige Einwilligung - im Namen des öffentlichen Interesses - durchgeführt worden war.
Die Namen von Wissenschaftlern und Politikern, Künstlern, aber auch von Mordopfern und potenziellen Mördern fanden sich auf den Etiketten der CDs, die hier aufbewahrt wurden und deren Inhalt man sich hier im Zentrum in sein eigenes Gehirn übertragen lassen konnte. Für Sebastian standen allerdings nur Filme zur Verfügung, die älter als drei Jahre waren. Diese Aufnahmen waren unscharf und beinhalteten vor allem akustische Erinnerungen. An Gedächtnisaufnahmen jüngeren Datums, die dank verbesserter Technik erheblich klarer waren, kam man nur mithilfe eines weiteren Codes, der dem wissenschaftlichen Personal und den höheren Semestern vorbehalten war.
Die Regelung war eingeführt worden, nachdem man festgestellt hatte, dass Menschen, die nicht genügend vorbereitet waren, die eigenen und die fremden Erinnerungen später nicht mehr eindeutig auseinander halten konnten.
Bevor Sebastian die Bibliothek betrat, schaltete er sein Handy aus. Das Gerät funktionierte hier unten zwar, da das hohe Institutsgebäude selbst Knotenpunkt eines Mobilfunknetzes war. Aber der Empfang war schlecht, und bei dem, was er jetzt vorhatte, wollte er ungestört sein. In der Bibliothek fand er sich zwischen Metallregalen wieder, die bis unter die Decke mit den schmalen, hochkant aufgereihten Kunststoffhüllen von zehn Zentimetern Kantenlänge aufgefüllt waren. In dem kahlen und kühlen Raum waren die Erinnerungsfilme archiviert, chronologisch und nach dem Typus des Toten.
Sebastian ging zum Ende des ersten Regals. Dort standen die letzten noch mit der alten Technik aufgenommenen Filme. Bei einem früheren Besuch in der Bibliothek hatte er einen Namen auf der Liste der Gedächtnisspender entdeckt, der ihn interessierte.
Es handelte sich um einen zeitgenössischen Popstar, der mit seiner Musik reich geworden war. Da in den meisten frei zugänglichen Filmen die akustischen Erinnerungen dominierten, versprach Sebastian sich von einem solchen Band am ehesten ein befriedigendes Erlebnis. Wer weiß, dachte er, vielleicht steckt darin ja eine wunderbare, vom Komponisten vor seinem Tode nicht mehr zu Papier gebrachte Melodie, die sich verkaufen lässt.
Er hatte den richtigen Film schnell gefunden und verließ die Bibliothek.
Das Ende des Ganges öffnete sich zu einer kleinen Halle mit zwei Kabinen, in denen sich die Gedächtniscomputer befanden. Sebastian betrat eine der Kabinen und zog die Tür hinter sich zu. Er warf den Film auf diese Kombination aus lederner Krankenliege und Zahnarztstuhl, die den größten Teil des Raumes einnahm. Am Fußende befand sich eine Rolle mit Papier, das über die Sitzfläche gezogen wurde. Es sollte das Leder vor dem Schweiß schützen, der einem hier schnell ausbrach, da der starke Rechner eine große Hitze ausstrahlte. Das Kopfende des Sessels bestand aus einer Art Helm, der den Kopf über der Stirn und den Ohren frei ließ. In der Wand dahinter gähnte eine Öffnung von dreißig Zentimetern Durchmesser, aus deren Metallrand etliche dünne Nadelspitzen nach innen ragten. Sebastian fand, dass die Anlage aussah wie ein auf Hochglanz poliertes mittelalterliches Folterinstrument.
Er aktivierte den in die Wand integrierten Rechner. Der Bildschirm erwachte zum Leben und fragte nach der Codekarte. Sebastian steckte sie in den Schlitz. Der Computer erhielt nun die Daten von Sebastians Kopf, die Dicke seiner Kopfhaut und Schädelknochen sowie die Position der relevanten Hirnregionen, besonders des Sulcus principalis, die auf der Karte gespeichert waren. Dann führte Sebastian die CD in den senkrechten Spalt in der Wand neben der Konsole ein. Nach zwei Sekunden meldete der PC seine Bereitschaft.
Sebastian legte sich in den Sessel. Er schob den Kopf sacht in den Helm und wunderte sich einmal mehr, wie weich der Druck war, den er auf Wangenknochen und Jochbeinen spürte, als die Helmhalterung seinen Schädel fixierte. Er konnte jetzt nicht mal mehr nicken. Die Lehnen des Sessels schmiegten sich perfekt an die Unterarme an. Unter seiner linken Hand war der kleine Hebel, den er jetzt umstellte. Langsam kippte der Sessel nach hinten, und der Helm mit Sebastians fixiertem Kopf fuhr in die mit Nadeln gespickte Öffnung, so dass der obere Teil seines Schädels in der Wand verschwand. Er wusste, dass die Nadeln, über die das fremde Gedächtnis in sein Gehirn übertragen würde, sich nun auf seine Kopfhaut zubewegten. Wenn alle Daten stimmten, würden sie den Bruchteil eines Millimeters über der Haut stehen bleiben. Während er das Summen der kleinen Elektromotoren hörte, mit denen die Nadeln bewegt wurden, hoffte er, dass die Maschine perfekt funktionierte. Sollte sie außer Kontrolle geraten, wäre er der Nächste, dessen Erinnerungen abgespeichert werden könnten. Aber mit dem Hebel an der Lehne hatte er immerhin einen Notschalter in der Hand: Ein leichter Druck, und der Vorgang wäre beendet. Und auch der Ruf Halt würde die Maschine stoppen.
Die rechte Hand legte Sebastian um den Spielball, eine Kugel, die zur Hälfte aus der Lehne herausragte, und um die herum Schalter angeordnet waren, die sich mit den Fingern bequem bedienen ließen. Eine leichte Bewegung der Hand drehte die Kugel und bestimmte die Feinposition der Nadeln. Hatte er den Eindruck, die Position wäre vielversprechend, so konnte er die Kugel mit einem Druck des Daumens auf einen Knopf fixieren. Ein weiterer Druck, und sie wäre wieder frei. Sebastian schloss die Augen und startete die Übertragung.
Zuerst spürte er nur ein Kribbeln auf der Kopfhaut. Eigentlich gab es dieses Kribbeln nicht. Das behaupteten zumindest die Ingenieure und Techniker, Physiker und Mediziner. Und sie erklärten damit fast alle zu Idioten, die jemals in den Helmen gesteckt hatten. Denn fast jeder, der die Anlage benutzte, kannte dieses Kribbeln. Und doch war es weder mit Messgeräten zu bestimmen, noch konnte man erklären, wie dieses Kribbeln auf der Kopfhaut ausgelöst wurde.
Jetzt war alles dunkel. Und es blieb dunkel. Ganz sachte bewegte Sebastian den Spielball mit der Rechten. Niemand hätte an den Metallnadeln eine Veränderung bemerken können, und doch bewegten sie sich weit genug, dass die Reize in Sebastians Gehirn wanderten.
Schwarz. Immer noch schwarz. Und immer noch... halt. Er arretierte den Ball mit dem Daumen. Da war etwas. Es war das Gefühl, das sich einstellt, wenn man etwas weiß, jedoch nicht darauf kommt. Es sitzt da irgendwo eingeklemmt in den grauen Windungen und sperrt sich, während man an ihm zerrt und zieht. Allerdings wusste Sebastian nicht, an was er sich da nicht erinnern konnte. Schließlich war das hier nicht seine Erinnerung.
Die Impulse jagten ein Reizmuster nach dem anderen durch sein Gehirn. Dann sah er etwas.

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