László Darvasi: "Herr Stern"
Novellen
Fünf
Novellen um das Geheimnis des Unfassbaren
Müttenheim, ein kleiner bayrischer Ort nach dem
Dreißigjährigen
Krieg: Ein angesehener, allseits beliebter Bäcker,
seine Frau und sein Kind werden ermordet aufgefunden. Die Polizei
greift alsbald einen Verdächtigen auf, einen Fremden, der die
Bluttat sogleich gesteht und darüber hinaus noch die
Schändung der Hausmagd des Bäckers. Er behauptet
jedoch, von einem bösen Geist besessen gewesen zu sein, der
während des Beischlafs in die Magd, vielmehr in das dabei
gezeugte Kind übergegangen sei. Die
Todesstrafe soll bis zur
Geburt ausgesetzt werden, damit der Wahrheitsgehalt der Aussage des
Mörders überprüft werden kann. Doch dann
entwickeln die Ereignisse eine erstaunliche Eigendynamik, und als das
Kind zur Welt kommt, ist ersichtlich, dass bei der Zeugung kein
böser Geist, aber eine in diesem Zusammenhang unerwartete
Person zugegen gewesen sein muss.
Noch rätselhafter als "Die seltsame Geschichte des Ungeheuers
von Müttenheim" präsentiert sich der
"Kleophas-Comic"; die Novelle handelt von einem jungen Studenten, der
eine entfernte Verwandte besucht, das schwarze Schaf der Familie. Sie
lebt mit einem alten Oberst zusammen, dem Vater ihres Liebhabers, der
sie schmählich verlassen hat. Als Gast im Haus des Obersts
lernt der Student, dass Leben und Tod eng miteinander verflochten und
die Übergänge zwischen ihnen fließend sind.
Schließlich kommt der Tag, den er in jenem seltsam aus dem
Kontext von Ort und Zeit gelösten Haus lange kommen sah: er
tötet einen Menschen, dem er nie zuvor begegnet ist.
Ein Waldhüter findet einen mit unglaublicher Kraft
abgerissenen menschlichen Arm. Dieser gehört eindeutig zu
Herrn Stern, einem früheren Privatgelehrten, der aus einer
Irrenanstalt entflohen ist. Herrn Stern kamen im Jahr vor der
Einlieferung in die Anstalt immer mehr Elemente seines Wortschatzes
abhanden, als ob sie gestohlen worden wären, bis er
schließlich verstummte. Eigenartigerweise bleibt der Rest
seines Körpers verschwunden. Dass die Antwort zu manchem
scheinbar unlösbaren Rätsel ganz einfach sein kann,
beweist der tiefgläubige, einfältige
Waldhüter mit einer schlichten Erklärung.
Zur Zeit der Inquisition entdeckt ein spanischer Edelmann und Poet,
dass alles, was er niederschreibt, Wirklichkeit wird. Zum Wohle seiner
Mitmenschen beschließt er, nie wieder zu schreiben, aber
manch einer nötigt ihn, seinen Schwur zu brechen.
Schließlich verfolgt ihn die Inquisition. Nach
dreißig Jahren Haft kommt er frei, nur mit einem Blatt Papier
bewaffnet. Die Welt hat sich verändert, die Folgen seiner
sonderbaren Gabe sind in Vergessenheit geraten - bis eine Begegnung die
Vergangenheit wieder zurückholt.
In der letzten Novelle wird ein junger Arzt in eine Verkettung von
Schicksalen und Verbrechen hineingezogen, in der scheinbar der Zufall
launig sein Unwesen treibt. Die Zuordnung von Freund und Feind wird
zunehmend schwierig. Welch andere Triebfeder als die Liebe
könnte da den Protagonisten veranlassen, sich bewusst in eine
Falle zu begeben, um das Netz aus Ränken und Skrupellosigkeit
zu zerreißen, das ein rätselhaftes, schönes
Mädchen umgibt?
In sämtlichen Novellen dieses Bandes zeigt sich Darvasis
Kunst, das übersinnlich Anmutende, Unfassbare sehr realistisch
in einen sorgsam auskomponierten, zumeist historischen oder von der
Zeit losgelösten Hintergrund einzubetten, wie man es bereits
aus "Die Legende von den Tränengauklern" kennt. Das
Unbegreifliche, in der gewohnten Wirklichkeit nicht Erklärbare
tritt in den Novellen jeweils unterschiedlich stark ausgeprägt
in Erscheinung, aber es spielt immer eine wesentliche Rolle. Gerade der
Psyche mit ihrer Sprunghaftigkeit und all ihren Untiefen stehen in
Darvasis Novellen somit Möglichkeiten offen, die von den
Naturgesetzen oft nicht eingeräumt würden. Vor allem
jedoch die Novellen, deren Handlung in der frühen Neuzeit
angesiedelt ist, spielen mit dem Übersinnlichen in einer
Weise, die durchaus die Glaubenswelt jener Epoche widerspiegelt.
Darvasis klare, schöne, bilderreiche Sprache wird in der
Übersetzung aus dem Ungarischen vorzüglich
wiedergegeben - keine Selbstverständlichkeit, aber unabdingbar
notwendig für ein tiefgründiges Werk, das von
farbigen, intensiv-ausdrucksvollen Schilderungen
ungewöhnlicher Örtlichkeiten, geheimnisvoller
Seelenzustände und überraschender Wendungen der
Handlung geprägt ist, manchmal auch vom typisch ungarischen,
handfesten Humor.
Dem Verlag sei ein Lob und Anerkennung dafür ausgesprochen,
dass er dem deutschsprachigen Raum die Gelegenheit bietet, diesen
außergewöhnlichen Autor kennen zu lernen.
(Regina Károlyi; 09/2006)
László
Darvasi: "Herr Stern"
Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer.
Suhrkamp, 2006. 229 Seiten.
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László
Darvasi, 1962 geboren, lebt in Szeged und Budapest.
Weitere Bücher des Autors:
László
Darvasi: "Die Legende von den
Tränengauklern"
Plötzlich sind sie da. Niemand weiß, woher sie
kommen, jene fünf geheimnisvollen Gestalten, die in dem von
Kriegen und Epidemien, Pogromen und Freiheitskämpfen
zerrissenen Mitteleuropa unterwegs sind und Kunststücke mit
ihren Tränen darbieten. Ihr klappriges Gefährt taucht
überall dort auf, wo die Menschen von Unglück und
Gewalt heimgesucht werden. Wer sind die Tränengaukler, auf die
zuletzt sogar die Meisterspione des Osmanischen und des Habsburger
Reiches angesetzt werden? Agenten, Schmuggler, Verschwörer?
Oder nur fünf weinende Engel der Geschichte? Jedenfalls
trägt die Welt, über die sie weinen, Züge
der heutigen.
Der Roman spielt zur Zeit der türkischen Besetzung Ungarns im
16. und 17. Jahrhundert. Der Erzähler, unverkennbar mit den
Tränengauklern im Bunde, heftet sich an die Fersen Franz
Pillingers, eines Jungen mit struppigem Haar und schwermütigem
Blick, der seine Eltern bei der Belagerung von Wardein verliert und
sich den ungarischen Aufständischen anschließen
wird. Die Welt, die ihn umgibt, reicht von Polen bis
Siebenbürgen, von Belgrad bis Venedig, von Wien bis Szeged.
Seine Geschichte ist eingewoben in einen poetischen Kosmos, in dem vom
Märchenhaften und Unerhörten so lakonisch berichtet
wird wie von den Wirren der Politik. Die historischen Tatsachen bilden
die Kulisse für ein wunderdurchwirktes und
aufrührendes Welttheater. Wie das "Licht der Sterne die
entlegenen Landstraßen der Himmelswelt durchreist", so
durchdringt der Blick des Erzählers die Zeiten - ein Blick,
den man nicht mehr vergisst. (Suhrkamp)
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"Die
Hundejäger von Loyang. Chinesische Geschichten"
Eines Tages tauchen Hunde in der Stadt auf. Sie bedrohen die Frau des
Färbers Wu auf dem Heimweg, erwürgen die Schafe und
beißen ein Kind tot. Ihre vom Mondlicht
vergrößerten, unheimlichen Schatten huschen des
Nachts durch die Straßen, als hätten
Dämonen die Stadt besetzt. Im Tempelgarten und auf dem
Seidenmarkt kämpfen die Menschen mit den Hunden, doch sie sind
wehrlos - die Ordnung ihrer Welt zerfällt. Da hört
jemand von den Hundejägern von Loyang, man versucht, sie
ausfindig zu machen. Alle Hoffnung, alles Warten richtet sich auf sie,
doch niemand verirrt sich in die verwahrloste Stadt.
Die Katastrophen und Wunder, die sich in Darvasis imaginärem
China ereignen, irritieren durch ihre seltsame Vertrautheit - nicht
nur, weil die Hundejäger Verwandte der Tränengaukler
sind, die in Mitteleuropa über Glück und
Unglück wachen. Seine Geschichten von
Bücherverbrennungen und gigantomanischer
Bautätigkeit, von verbannten
Blumen und mongolischen
Totenwürmern, von Kaisern und Traumhütern sind in
jene Vergangenheit entrückt, als der Bau der Chinesischen
Mauer noch unvollendet war.
Doch nicht in der gleichnishaften Wiederholung des Bekannten, sondern
in dessen Verfremdung und Verrätselung entfalten diese
Märchen über die Zeiten totalitärer
Herrschaft ihren unwiderstehlichen Zauber. Je häufiger man sie
liest, desto tiefer gerät man in ein Labyrinth aus Bildern und
Gedanken, und in den kürzesten Texten von oft nur wenigen
Zeilen entfaltet sich der unverwechselbare Darvasi-Klang am
schönsten. (Suhrkamp)
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"Wintermorgen. (Gott. Heimat. Familie) Novellen"
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