"Die Welt wird niemals enden"
Geschichten der Dakota; erzählt von Mary Louise Defender Wilson
Die zur Sprachfamilie der Sioux gehörenden Dakota
haben unser
Bild vom mustangreitenden, bisonjagenden und in Tipis lebenden Indianer
maßgeblich geprägt. Mit der Sammlung "Die Welt wird
niemals enden" erhält
man nun - erstmals in schriftlicher Form festgehalten - auch Einblick
in
ihre reiche Erzähltradition.
Die Frau, welche sich um die
Überlieferung und Verbreitung zahlreicher Dakotageschichten großes Verdienst
erworben
hat und übrigens auch als Sprecherin ihres Volkes im Standing
Rock Reservat in
Nord-Dakota fungiert,
nennt sich Mary Louise Defender Wilson bzw., mit ihrem
ursprünglichen Namen, Wagmuhawin, was soviel wie "Rasselfrau"
bedeutet. Wagmuhawin lernte früh die
Erzählungen ihrer Vorfahren kennen und lieben, begann bereits
im
Alter von zehn selbst zu erzählen und hat damit seitdem nicht
aufgehört, ihr Repertoire durch Kontakt mit anderen Erzählern und kraft ihrer
Lebenserfahrungen ständig erweiternd und vertiefend.
Seit einigen Jahren macht sie
auf
zahlreichen Vortragsreisen die Dakotageschichten auch in englischer
Sprache
einem breiten Publikum zugänglich, und im Jahr
2003 wurden sie zuguterletzt vom Ethnologen Michael Schlottner
auf Tonband
aufgenommen, für die vorliegende Ausgabe ausgewählt
und übersetzt.
Hier muss allerdings erwähnt werden, dass durch die schriftliche Fixierung der Charakter der Geschichten deutlich verändert wurde, denn die lange mündliche Erzähltradition hat etliche besondere Stilelemente und Feinheiten des Vortrags hervorgebracht. Die romantisch-heimelige Atmosfäre in einem Zelt oder um ein Lagerfeuer herum, der Brauch, die Geschichte an das jeweilige Publikum anzupassen, wodurch ständig neue Versionen entstehen, die Sinnlichkeit des gesprochenen Wortes an sich, schließlich die Betonung des allgemein Gültigen und Überpersönlichen in den überlieferten Ereignissen, alles dies verleiht der wirklichen Erzählsituation ein Maß an lebendiger Gegenwart, die das Buch erahnen helfen, aber natürlich nicht zur Gänze wiedergeben kann.
Zwei
Genres sind zu unterscheiden: die sogenannten Wichao`oyake -
Geschichten der neueren Zeit, die meist von Selbsterlebtem der
Erzählerin oder ihrer Freunde und Verwandten, allen voran
ihres mit Heilkräften gesegneten Großvaters
Sieht-den-Bären, berichten; zweitens - den weitaus
größeren Teil des Buches ausmachend, die Ohunkankan
- Geschichten aus fernen Zeiten, welche Ereignisse der Vorzeit
thematisieren, die darüber Auskunft geben, warum es
unterschiedliche Sprachen gibt, warum ein Fluss entstanden ist,
wie das Pferd oder ein bestimmter Tanz zu den Dakota kam, oder warum
der Koyote aussieht, als würde er ständig grinsen.
Dabei stoßen wir auf allerlei archetypische Gestalten: das
Steinwesen, eine Art eng mit der Erde verbundenen Kulturheros, die
doppelgesichtige Frau (einmal medusenhaft-schrecklich, einmal
freundlich-hilfsbereit) und - beliebteste, wenn auch negative
Figur - auf Unktomi, den Spinnenmann, einen schäbigen,
raffiniert-hinterlistigen Vagabunden, der sich am Ende aber immer als
der Dumme erweist und wohl auch den kleinen großen Gauner in
uns selbst verkörpert.
Manchmal überwiegt das
Mythische in den Geschichten, manches ähnelt Fabeln, andere
wieder sind eher im Stil heiterer Episoden, gemeinsam ist ihnen, dass
sie auf sanfte Art dem Menschen ein Leben in
Harmonie mit seinesgleichen und der
Natur vermitteln.
(fritz; 06/2006)
"Die
Welt wird niemals enden"
Geschichten der Dakota; erzählt von Mary Louise Defender
Wilson.
Aus dem Wichiyena-Dialekt der Dakota und
aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Michael
Schlottner.
Insel Verlag, 2006. 207 Seiten.
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(...)
Nach Wurzeln gruben die Frauen
gewöhnlich mit ihren Grabstöcken, doch bei der
Erdbohne machten sie eine Ausnahme, denn sie ernteten die Frucht nicht
von der Pflanze. Statt dessen gab es eine besondere Art von
Mäusen, die unter der Erde lange Gänge zu den
Pflanzen anlegten und Vorratsräume gruben, wo sie die Bohnen
in großen Mengen lagerten. Von oben sahen diese
unterirdischen Vorratsräume wie kleine, niedrige
Erdhügel aus. Manch eine der Frauen verfügte
über eine besondere Gabe, solche Vorratskammern
aufzuspüren.
An diesem Tag war eine jener Frauen allein ausgezogen, um nach
Erdbohnen zu suchen. Bald schon hatte sie mehrere Erdhügel
entdeckt, die dicht beieinander lagen. Einer davon war besonders hoch,
und die Frau war sehr erfreut über ihren Fund. "Es sind sicher
viele Bohnen, und ich werde sie alle zurück ins Dorf tragen",
dachte sie, "wir werden im Winter genug zu essen haben und
müssen nicht hungern." Um sicher zu sein, daß kein
anderes Tier als die Maus den Hügel aufgeworfen hatte, steckte
sie ihren Grabstock in die Erde. Befriedigt stellte sie fest,
daß hier tatsächlich in einem Hohlraum Bohnen
lagerten. Schnell breitete sie ihren Tragesack aus, räumte die
Erde beiseite und hatte gerade eine Handvoll Bohnen ergriffen, als sie
eine feine, aber zornige Stimme hörte.
"Diese Frau ist eine große Diebin, und sie liebt es, uns zu
bestehlen."
Erstaunt schaute sich die Frau nach allen Seiten um, aber niemand war
zu sehen. Sie wartete noch eine Weile, aber es war nichts mehr zu
hören. Alles blieb still. Als sie jedoch wieder nach den
Bohnen griff, erhob sich sofort die Stimme.
"Kein Zweifel, diese Frau liebt das Stehlen, und sie ist eine
große Diebin."
Wieder schaute sie sich um, aber nun schien ihr, als wäre die
Stimme von unten gekommen, und so schob sie die restliche Erde von den
Bohnen, die nun ganz frei lagen. Und da sah sie auch schon eine Maus,
die wie ein Wächter neben den Bohnen saß. Sie wurde
sehr nachdenklich, denn sie war sicher, daß ihr die Maus eine
bedeutsame Mitteilung hatte machen wollen, die unbedingt zu beachten
war. Sie hörte auf zu graben und ging zurück in ihr
Dorf. Dort rief sie jene Frauen zusammen, mit denen sie verwandt und
befreundet war. Sie erzählte ihnen alles, was vorgefallen war,
wie sie den hohen Hügel gefunden und wie sie ihren Grabstock
in den Boden gerammt hatte.
"Zweimal hat die Maus zu mir gesprochen", schloß sie ihre
Schilderung, "und sie sagte, ich sei eine Diebin und liebe das Stehlen.
Ich bin überzeugt, daß es eine jener Mäuse
war, welche die Bohnen gesammelt haben."
"Über lange Jahre hinweg haben wir nach den Vorräten
der Mäuse gegraben", warf die ältere Schwester der
Frau ein, "und es sind ihre Vorräte für den Winter."
"Und wie oft haben wir ihnen alles weggenommen, ohne zu bedenken,
daß die Mäuse die Sammler waren", pflichtete die
jüngere Schwester bei, "denn die Bohnen liefern uns eine
gesunde Speise in einer Zeit, wenn es nichts zu sammeln gibt."
"Ja, ihr sprecht recht", stimmte die Vaterschwester zu, "wir haben die
Bohnen gestohlen und die Mäuse in Nöte gebracht. Sie
haben hart dafür gearbeitet, und wir müssen ihre
Botschaft beachten, auch wenn es nur sehr kleine Tiere sind."
"Denkt nur daran", sagte nun die Tante, "wie tief sie ihre
Gänge angelegt haben und wie oft sie darin hin- und herlaufen
müssen, bis sie eine so große Menge Bohnen
beisammenhaben."
"Wenn wir etwas von anderen Menschen brauchen", grübelte eine
Nachbarin, "so handeln wir mit ihnen. Erinnert euch an all die
verschiedenen Orte, die wir besuchen, um dort Handel zu treiben. Wir
nehmen uns, was wir brauchen, und geben, was wir im
Überfluß haben, an dem es aber anderen Menschen
mangelt."
Diesen Gedanken fanden alle gut, und die Frau sagte: "Ja, warum sollten
wir nicht auch mit den Mäusen handeln."
"So laßt uns künftig stets etwas von unserem
getrockneten Fett und ein wenig Mais mit uns führen",
ergänzte eine ihrer Schwestern, "Wenn wir Bohnen von den
Mäusen nehmen, lassen wir ihnen unsere Gaben zurück.
Dann haben auch sie Vorräte für den
Winter."
Und so geschah es. Seither tragen die Frauen immer ein wenig Fett und
einige Maiskörner bei sich, wenn sie in das Grasland ziehen,
um nach Bohnen zu graben. Die Mäuse aber haben seither nie
wieder zu den Frauen gesprochen.