Dieter Richter: "Carlo Collodi und sein Pinocchio"


Der Kultursender "ARTE" hat im Rahmen eines Themenabends eine kleine Lücke geschlossen, die in Bezug auf den Autor von "Pinocchio" - also Herrn Collodi - bestand. Das nunmehr vorliegende Buch beschäftigt sich u.a. auch mit dem Autor, der Entstehungsgeschichte des "Pinocchio" und spezifischen psychologischen bzw. psychoanalytischen Mustern, die der Geschichte eingeordnet sind.

Es soll nunmehr nicht darum gehen, alte Geschichten aufzuwärmen, und Hohelieder auf dieses wunderbare Buch für Kinder und Erwachsene anzustimmen. Dieter Richter schuf ein Büchlein, das als Sammelbecken für die verschiedenen Aspekte des "Pinocchio" dienen mag. Der Rezensent möchte eine Besonderheit herausgreifen, die eine ungewöhnliche Beschäftigung mit dem "Holzbengel" auch für den Leser nach sich zieht, der glaubt, schon längst alles über die Geschichte, deren Umstände und Strukturen zu wissen.

Was passiert, wenn die Lektüre des "Pinocchio" beendet ist? Natürlich, es macht sich Langeweile breit, und so mancher Leser wird sich fragen, wieso die Geschichte ausgerechnet so enden musste ... Tatsächlich habe auch ich die Erfahrung gemacht, jedes Mal nach dem Lesen des Buches ein wenig überrascht zu sein. Egal, ob als Kind oder als "Erwachsener": Aus dem "Holzbengelchen" wird ein "echter Junge", und diese Verwandlung könnte als non plus ultra abgefeiert werden; aber dem ist wohl - aus der Perspektive des Lesers gesehen - in den wenigsten Fällen so (die Forschung hat sich auch mit dieser Facette des "Pinocchio" stark beschäftigt). Es sind ja gerade die "Hölzernheit" des Knaben, die "Blödheit" dieses Püppchens, welche die Besonderheiten seiner Geschichte ausmachen. Wenngleich mehr oder weniger "christliche" Motive (nicht zuletzt der "Walfisch") in die Erzählung eingepasst sind, und die "Verwandlung" in einen Menschen aus Fleisch und Blut sozusagen die "logische Konsequenz" sein mag, die auf ein störrisches Leben folgt, so sind es gerade die Grade an kindlicher Rebellion, Nonkonformismus und Individualität, die zu den Aspekten führen, welche dem Leser ans Herz wachsen. Wäre Pinocchio ein angepasster Ja-Sager ohne eigenen Willen, dann würde dieses Buch wohl niemanden interessieren. Doch am Ende ist die "Belohnung" für die "Erkenntnisfähigkeit" des Pinocchio, dass er eben zu einem Jungen wird, der jener Charakterisierung relativ nahe gekommen ist. Insofern diese "Normalität" in sich zusammenfiele, wäre leicht vorstellbar, dass sich Pinocchio wieder in die Holzpuppe zurückverwandelt.

Genau jene "Rückverwandlung" beschrieb Christoph Meckele in "Das hölzerne Bengele" (1971). Seine Geschichte beginnt dort, wo der ursprüngliche Pinocchio von Collodi aufhört. Es kracht bald in den Gelenken des braven Menschenjungen, und Pinocchio wird vom "Holzfieber" befallen. Schließlich verwandelt er sich wieder in die Holzpuppe, die er einmal war. Die Erzählung kann von neuem beginnen.

Eine ungewöhnliche Adaption ist zudem jene von Robert Coover ("Pinocchio in Venice", 1991). "Nach einem langen und ehrenvollen Leben als intellektueller Mustermensch - Professor, Schriftsteller, Nobelpreisträger - kehrt Pinocchio in seine italienische Heimat zurück und erlebt während des Karnevals sein langsames Sterben als allmähliche Rückverwandlung in schäbiges Holz."

"Pinocchio"“ ist jedenfalls ein Stoff, dessen Ende nicht unbedingt so hingenommen werden muss. Freilich erschien "Pinocchio" zunächst als Fortsetzungsgeschichte in den Zeitungen, und es musste irgendwann mal ein Ende geben. Und im Sinne einer perfekten pädagogischen Wirkung ist es sicher eine gute Möglichkeit, die Geschichte mit der Verwandlung des Holzpüppchens in ein Menschenkind enden zu lassen. Jedoch gibt es da eben die "Nullstelle", die viele Leser nach dem Ende der Geschichte wahrnehmen: Es hätte ja auch anders enden können! Zum Unterschied zu anderen Werken der Weltliteratur, deren Adaption deswegen scheitern muss, weil die Eigenheit des Hauptprotagonisten unmöglich demaskiert oder verunmöglicht werden kann (bspw. das "alter ego" von Franz Kafka, "K."), ist es ja eben die entwicklungspsychologische Komponente des Pinocchio, welche die Fantasie der Leser beflügeln, und ein anderes Ende erträumen mögen. Warum sollte auch aus einem ehemals rebellischen, nonkonformistischen, individualistischen "Holzbengelchen" ein Menschenjunge werden, der in der Schule brav lernt und die gesellschaftlichen Umstände und Eigenheiten bis zu seinem Lebensende akzeptieren wird, ohne einen Gedanken an die schöne Zeit als Holzpüppchen zu verschwenden? In diesem Sinne wird das Sammelbecken der Auseinandersetzung mit "Pinocchio" mit einer Eigenheit angereichert, die viele interessierte Leser der Geschichte dazu bringen mag, den "Pinocchio" in Zukunft vielleicht ein bisschen anders zu lesen.

Neben dem näher beschriebenen Aspekt ist das Buch von Dieter Richter eine wunderbare Grundlage, um sich mit den verschiedensten Faktoren der "Pinocchiologie" auseinander zu setzen und sollte in keinem Bücherschrank fehlen, der auch den "Pinocchio" von Carlo Collodi enthält.

(Jürgen Heimlich; 05/2004)


Dieter Richter: "Carlo Collodi und sein Pinocchio"
Wagenbach, 2004. 144 Seiten.
ISBN 3-8031-2495-6.
ca. EUR 10,90. Buch bestellen

Ergänzender Buchtipp:

Robert Coover: "Pinocchio in Venedig"

Buch bestellen