Susanna Clarke: "Jonathan Strange & Mr Norrell"


Nicht schlecht, aber ...

England zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die in früheren Jahrhunderten durchaus übliche praktische Zauberei hat schon lange vollständig aufgehört, und die Zauberer der Gegenwart beschäftigen sich ausschließlich mit theoretischer Zauberei. Darunter verstehen sie das Lesen von Büchern, das gemeinsame Philosophieren über die alten Werke und Meister und vor allem die Analyse der Geschichte der Zauberei. In diese Zeit hinein taucht Mr Norrell plötzlich wie aus dem Nichts auf. Norrell ist ein praktischer Zauberer und hat es sich zum Ziel gemacht, die Zauberei nach England zurückzubringen. Seine sehr eigenartige Persönlichkeit ist aber nicht dazu angetan, diese Zauberei wirklich nach England zurückzubringen, dazu ist er viel zu introvertiert und vor allem zu sehr Geheimniskrämer, hat er doch praktisch jedes Buch über Zauberei, das er ergattern konnte, aufgekauft und versteckt es in seiner eigenen Bibliothek, so dass bloß kein Anderer über sein Wissen verfügen kann.
Bald darauf taucht eine zweite Person auf: Jonathan Strange, dessen Persönlichkeit absolut gegensätzlich ist. Extravertiert, aufgeschlossen, interessiert an der ganzen Welt, und vor allem anders als Mr Norrell scheut er keine Art der Zauberei. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb nimmt Mr Norrell ihn als Schüler auf. Wenngleich Mr Norrell vor jeglicher Form der Magie, die Elfen benötigt, zurückschreckt, so begeht er doch sehr früh den Fehler, eine junge Dame aus der Welt der Toten zurückzuholen - dazu jedoch benötigt er einen Elfen, und damit beginnt auch der eigentliche Konflikt des Romans, denn der Elf findet wieder Spaß daran, Menschen in sein Reich zu entführen - bis er schließlich auch die junge Ehefrau des Jonathan Strange holt ...

Die Geschichte ist also wirklich gut gewählt und hat auch tatsächlich viel zu bieten. Sprachlich ist das Werk absolut in Ordnung und kann sich mit großer Literatur messen. Das große Problem bei der Beurteilung des Werkes liegt aber darin, dass es nicht einheitlich ist. Die Autorin entwickelt ihren eigenen Schreibstil erst im Laufe des Buches, und so ist die Qualität sehr unterschiedlich. Schafft sie es z.B. anfänglich überhaupt nicht, Stimmungen zu schaffen, so vermindert sich diese Schwäche langsam bis zum Ende des Romans - wenngleich diese Schwachstelle niemals ganz ausgemerzt wird. Ebenso verhält es sich mit der Erzählperspektive: Anfänglich nimmt Clarke eine Mischform aus personaler und auktorialer Erzählperspektive ein, die aber nach rund einem Drittel des Buches der ausschließlichen personalen Erzählperspektive weichen muss. Jedoch wird der Text durchgehend mit Fußnoten ergänzt, die die Geschichte in einen historischen Kontext einfügen.

Die wirkliche Schwierigkeit des Buches liegt aber vor allem darin, dass kaum Spannung aufkommt. Man möchte zwar zum Ende kommen und wissen, was als Nächstes geschieht, dennoch plätschert das Buch aber einfach so dahin. Der zentrale Konflikt wird zu wenig herausgestellt und vor allem kaum emotional unterlegt.

Besonders geglückt werden dagegen die beiden Hauptfiguren enorm vielschichtig und glaubwürdig gezeichnet. Darin besteht auch die wirkliche Stärke dieses Werkes, denn die Charakterisierung der Figuren ist wirklich außergewöhnlich gut gelungen. Die Charaktere sind gut entwickelt und ändern sich auch glaubhaft im Lauf der Zeit. Trotz einer vom äußeren Handlungsverlauf getragenen Geschichte haben wir es mit einer Figurenqualität zu tun, die man meist nur in Geschichten findet, in denen Charakterisierung und innere Entwicklung der Protagonisten im Vordergrund stehen.

Wenn der bekannte englische Autor Neil Gaiman dieses Werk als "den besten englischen Fantasyroman der letzten siebzig Jahre" bezeichnet, dann hat er damit entweder einen Freundschaftsdienst erwiesen, das Buch nicht gelesen oder aber er kennt sonst keine englische Fantasy. Ebensowenig ist die vermarktungsfördernde Bezeichnung "Harry Potter für Erwachsene" angemessen; das Buch hat mit Potter nicht mehr gemeinsam als die Tatsache, dass Zauberer vorkommen.
"Jonathan Strange & Mr Norrel" hat - wie erwähnt - durchaus gute Anteile, aber auch Schwächen. Vermutlich werden vor allem all jene, die sich von einem Fantasyroman Spannung und Stimmung erwarten, eher enttäuscht sein.

(Reinhold Stansich; 12/2004)


Susanna Clarke: "Jonathan Strange & Mr Norrell"
Aus dem Englischen von Rebekka Göpfert und Anette Grube.
Bloomsbury Berlin, 2004. 1040 Seiten.
ISBN 3-8270-0522-1.
ca. EUR 30,70.
Buch bei amazon.de bestellen
Englische Ausgabe bei amazon.de bestellen

Lien:
https://www.jonathanstrange.de/

Susanna Clarke wurde 1959 in England (Nottingham) geboren. "Jonathan Strange & Mr Norrell" ist ihr erster Roman, an dem sie mehr als zehn Jahre lang gearbeitet hat. Zuvor publizierte sie Kurzgeschichten und Novellen in Anthologien.