Marcus Borg: "Heute Christ sein"

Den Glauben wieder entdecken


Im Jahre 2004 sorgte ein Film von Mel Gibson, der auch am Drehbuch mitgeschrieben hat, für einen mittleren Skandal. The passion of the Christ zeigt die Leiden Jesu am Kreuz mit brutaler Nachdrücklichkeit. Bezeichnend für diesen Film ist aber in erster Linie, dass er als Angriff auf das progressive Christentum gedeutet werden kann. Von dieser zumindest in Nordamerika weitverbreiteten Strömung, welche Marcus Borg als aufkommendes Paradigma bezeichnet, handelt das zu besprechende Buch. Der Autor beschäftigt sich einerseits mit der christlichen Tradition und wie es möglich sein mag, sie wieder zu entdecken. Andererseits proklamiert er die Chance, das christliche Leben in moderne Bahnen zu lenken und somit eine Erneuerung des Daseins des (christlichen) Menschen verwirklichen zu können.

Der Grund, warum so viele Menschen den Kirchgang meiden, mag darin liegen, dass kein wörtlich-faktisches Glaubensverständnis vorliegt. Das frühere Paradigma (welches jedoch in weiten Teilen der Welt "geglaubt" wird und im tiefkatholischen Österreich einen nahezu absoluten Stellenwert besitzt) steht dem sogenannten aufkommenden Paradigma entgegen, das die Heilige Schrift als Sakrament betrachtet; jedoch nicht als von Gott diktiert verstanden wird, und zudem von einer metaphorischen Sprache ausgeht. Was Eugen Drewermann mit seinen zahlreichen Büchern zu bewirken versucht, tut Marcus Borg auf gemäßigtere Weise. Er attackiert das im Laufe von Jahrhunderten entstandene Glaubensverständnis keineswegs, sondern ist bemüht, eine kommunikative Ebene zwischen leicht verschobenen Glaubensvorstellungen eröffnen zu können. Hierbei geht er auch davon aus, dass es notwendig sei, in eine Glaubensgemeinschaft integriert zu sein, um den Glauben leben zu können. Er plädiert dafür, die "passende" Gemeinschaft zu finden, sodass durch die sozialen Begegnungen ein erweitertes Bewusstsein für den Glauben ermöglicht werden mag. Freilich geht der Autor von Nordamerika aus, wo es bereits christliche Gemeinschaften gibt, die dem Glauben als Assensus wenig Bedeutung zumessen. Glauben rein auf den Verstand zu reduzieren und davon auszugehen, dass bestimmte Dogmen geglaubt werden müssen, da ansonsten "wahrer" Glaube nicht vorliege, ist für den Menschen kaum ein Fundament, der etwa tiefstes menschliches Unglück zu erleichtern vermag. Wesentlich für den Glauben sind für den Autor und jene Menschen, die das aufkommende Paradigma bejahen, Glaube als fiducia, fidelitas und visio. Kurz geschrieben: Glaube im Sinne von Gottvertrauen, Treue zu Gott und einer ganzheitlichen Sicht der Schöpfung und allem, "was ist". Glauben auf irgendwelche Thesen zu reduzieren ist in sich zerstörerisch. Wobei nicht als unwesentlich gelten mag, dass das etwa in Österreich herrschende Glaubensverständnis nicht so alt ist wie das Christentum selbst. Die sogenannten Urchristen maßen den drei (vorher beschriebenen) letzten Glaubensformen besondere Bedeutung bei. Der Glaube als wörtlich-faktische "Vergeistigung" hat sich erst im Laufe der letzten Jahrhunderte entwickelt.

Die Beziehung zu Gott ist vorrangig eine Herzensangelegenheit. Davon sind sicher nicht nur der Autor und Eugen Drewermann überzeugt. Leider ist die Sprache der "Kirchenmänner" zum Großteil auf das rationale Element reduziert; als ob es möglich sei, Gott durch das Nachsprechen von Formeln näher kommen zu können. Marcus Borg bringt den Lesern nahe, was von zentraler Bedeutung ist: Bibel, Gott und Jesus sind für Christen die Fundamente, auf denen ihr Glauben aufbaut. Doch es ist das Herz, welches angesprochen ist. Wenn der Autor von "transparenten Orten" spricht, dann mag dem Leser das Herz aufgehen. Von verschlossenen und offenen Herzen ist die Rede; von einem Herz, das sich selbst als "das Alpha und das Omega" definiert, und von einem Herz, welches offen ist für Gott und die Schöpfung bejaht. Ein transparenter Ort ist ein Treffpunkt mit Gott. Das kann ein Mensch sein, eine Straße, eine Insel im Ozean; Gebet, die Bibel, ein Gotteshaus u.v.a. Ein transparenter Ort ist also keineswegs auf das Tabernakel reduziert.

Es gäbe noch sehr viel über dieses Buch zu erzählen, welches den Rezensenten über weite Strecken fasziniert hat. Einziges Manko ist die bereits geschilderte Tatsache, dass das sogenannte progressive Christentum in Europa (und im Besonderen in Österreich) noch kaum oder nicht verbreitet ist. Somit ist es für einen Christen, der das wörtlich-faktische Glaubensverständnis ablehnt, nahezu unmöglich, christlichen Glauben im Rahmen einer Gemeinschaft zu leben. Dessen ungeachtet vermittelt das Werk viele wunderbare Gedanken, die zu einer Bewusstseinserweiterung des christlichen Glaubensverständnisses führen können. Somit sei es allen Menschen anempfohlen, für die christlicher Glaube eine Herzensangelegenheit ist; egal, ob sie einer christlichen Glaubensgemeinschaft angehören oder nicht.

(Jürgen Heimlich; 10/2005)


Marcus Borg: "Heute Christ sein"
Übersetzt von Bernward Halbfas.
Patmos, 2005. 224 Seiten.
ISBN 3-491-70387-5.
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Marcus Borg ist Professor für Religion und Kultur an der Oregon State University, USA, und gehört der Anglikanischen Kirche an.