Ermanno Cavazzoni: "Kurze Lebensläufe der Idioten"
Gelesen von Sophie Rois und Alexander Scheer
(Hörbuchrezension)
Tiefgründige
Torheit, wie sie den Fürsten Myschkin in F.M.
Dostjewskis opulentem Roman Der Idiot eigen ist, vermag die Umwelt zu
irritieren. Die Menschen ringsherum sind oft ratlos, und noch so viel Bemühen
ermöglicht es nur marginal, einen Zugang zur Innenwelt dieser Idioten zu
finden. Wobei mit einem Idioten eben keine beschränkte Persönlichkeit gemeint
ist; sonst würde der Roman von Dostojewski wohl eher Der Beschränkte
betitelt sein. Es ist vielmehr das Gegenteil der Fall: Die Idioten verfügen
über eine überbordende Wahrnehmung der Umwelt, wodurch sie den Mitmenschen
allein schon verdächtig scheinen können.
Wie diffizil die Persönlichkeitsmuster sogenannter Idioten ausgeprägt sein können,
wird mit den Geschichten von Ermanno Cavazzoni offenbar. Ein Mensch lebt nur für
einen Roman, den er zu schreiben gedenkt. Er macht sein Leben zu diesem Roman
und schreibt jeden Satz nieder, der ihm als wesentliches Kriterium persönlicher
Reflexion schriftstellerisch dienlich ist. Sitzt er in einem Restaurant, dann
schreibt er in seinen Notizblock, dass er in einem Restaurant sitze. Geht er
spazieren, so brennt sich bereits der Satz in sein Hirn: "Ernesto flaniert
durch die Straßen." Ernesto ist der Romanheld, welcher mit der Person des
Autors ident ist. Seine Mitmenschen glauben, er sei ein fantastischer Autor, der
sich nicht dazu aufraffen mag, veröffentlicht zu werden. Doch nach seinem Tode
wird die Tragik offenbar, dass der Mann nie über eine einzige Seite
hinausgekommen ist. Tausende von Romananfängen stapeln sich in seinem Zimmer,
und es gibt nur winzige Nuancen, woran sich diese gescheiterten Versuche
unterscheiden. Ein Autor als Gefangener seiner Vorstellungen?
Ein Mann ohne
Eigenschaften?
Wie auch immer; es ist vergleichsweise harmlos, was dieser Idiot seinem Leben
abverlangt hat, wenn auf einen Zeitgenossen hingewiesen wird, der seit dem
Karneval 1956 mit seiner Clownsnase verwachsen scheint. Er behält dieses Ding
auf, und sein Kind glaubt, es sei eine natürliche Eigenheit des Vaters, diese
komische rote Karnevalsnase als sein eigentliches Riechorgan anzusehen. Eine
Psychoanalyse kann nicht helfen, und Psychiater haben den Vorzug, besonders
ausgeprägte Nasen zu besitzen. Diese Geschichte gemahnt an die herrliche
Groteske von Gogol und verherrlicht eine künstliche Nase, während Cyrano seine
natürliche Nase als Ungeheuer empfand, dem er Hunderte Hässlichkeiten
andichtete.
Eine Frau ist vom Untergang der Welt überzeugt. Da sie das Weltende zu jedem
Zeitpunkt erwartet, verbrennt sie sich häufig beim Kochen, weil sie alles
besonders schnell machen will. Acht Minuten Kochzeit für Spaghetti erscheinen
da zu lang. Schließlich besteht die Möglichkeit, dass die Spaghetti noch nicht
fertig sind, wenn die Apokalypse die Geschöpfe dieser Erde vernichtet. Ihr Mann
beruhigt sie, indem er ihr davon erzählt, dass das Weltende nicht ohne Vorankündigung
käme. Zunächst einmal müssten die Toten aus ihren Gräbern kriechen. Das
allein würde schon viel Zeit beanspruchen ... Es ist darauf hinzuweisen, dass
hier das Dasein einer Zwangsneurotikerin beschrieben ist. Eher unwahrscheinlich
ist das Ende zu sehen, da die Frau auf eine Zauberei mit einem Magneten hereinfällt.
Gleich drei Erzählungen beschäftigen sich mit Selbstmorden. Besonders kurios
geziemt sich die Liebesgeschichte eines Paares, das traurige, melancholische
Stunden miteinander teilt. Intimität der sexuellen Art bleibt ausgespart. Auf
dem höchsten Punkt der Trauer angekommen, wollen die beiden Liebenden aus dem
Leben scheiden. Doch trotz mehrerer Versuche des Mannes gelingt dieses Vorhaben
nicht. Am Ende bleibt ein durchschossenes Bein zurück.
Was die beschriebenen Menschen eint, ist die tragische Persönlichkeitsstruktur.
Sie leiden an Vorstellungen, die, wie bereits kurz angedeutet, stark an
zwangsneurotische Persönlichkeiten erinnern. Das tragikomische Element ist
jeder Erzählung inhärent. Und hier schließt sich auch der Kreis: Tiefgründige
Torheit, wie sie im Idioten von
Dostojewski exemplifiziert ist, lässt
sich auf die Charaktere von Cavazzoni nur bedingt übertragen. Das liegt
freilich auch in der Kürze der Lebensläufe begründet, wodurch es nicht möglich
ist, spezifische Persönlichkeitsmuster auszuleuchten. Doch die Annäherung ist
schon ausreichend, um diesen Figuren mit Sympathie zu begegnen. Es sind allesamt
Zeitgenossen, welche sich dem Trubel der modernen Welt entziehen und ihre
eigenen Vorstellungen vom Leben haben. Grund genug für den Hörer, den Begriff
der "Normalität" in bestehenden Gesellschaftsschichten zu hinterfragen.
Sophie Rois und Alexander Scheer erweisen sich als glänzende Rezitatoren,
welche für ein besonderes Hörvergnügen sorgen.
(Al Truis-Mus; 11/2005)
Ermanno Cavazzoni: "Kurze Lebensläufe
der Idioten"
Wagenbach, 2005. Laufzeit 73 Minuten.
ISBN 3-8031-4083-8.
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Buchausgabe:
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider.
Wagenbach. 144 Seiten.
ISBN 3-8031-2527-8.
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Ermanno Cavazzoni wurde 1947 in
Reggio Emilia geboren. Sein 1987 in Italien publizierter Roman "Poema dei
lunatici" (dt. "Gesang der Mondköpfe") inspirierte Federico
Fellini zu seinem Film "Die Stimme des Mondes". Für seine
Kalendergeschichten "Kurze Lebensläufe der Idioten" wurde er mit
mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet.
Weitere Bücher des Autors:
"Gesang der Mondköpfe"
Ein selbsternannter Hygieneinspektor untersucht Hinterhöfe mit Brunnen. Dort
wohnen die Mondköpfe, schrullige Leute, die unerhörte Geschichten erzählen
(und veranstalten).
Ein Roman voller Geschichten von Menschen, die sich für normal und andere für
verrückt halten, und umgekehrt. Zugleich ein höchst amüsanter Bericht über
das Fehlen einer Weltanschauung und die alte Frage: Wie virtuell ist die
Wirklichkeit?
"Gesang der Mondköpfe" ist Cavazzonis erster Roman.
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"Die nutzlosen Schriftsteller"
Sie haben Angst, gering zu gelten, nicht wichtig genommen zu werden, sie sind
eifersüchtig, eitel, rachsüchtig. Ein äußerst vergnügliches Panoptikum, mit
Cavazzonis berühmtem, trockenem Humor geschrieben, in dem die menschlichen
Schwächen bis in die hintersten, finstersten Gedankenwinkel ausgeleuchtet
werden.
Schriftsteller: Ob sie schon lange auf Bäumen sitzen oder frisch aus der Erde
sprießen - alle wollen Erfolg haben und geben dafür ihren Namen preis, ihre
Herkunft, verdingen sich als Schlittenhunde oder als
Diebe.
Der Eine schließt einen Pakt mit den Teufel, der Andere mit dem Erzengel
Michael, während der Avantgardeschriftsteller seit zwanzig Jahren im Keller
sitzt und mit der Schere Buchseiten zurechtstutzt.
Ironisch und humorvoll beschreibt Ermanno Cavazzoni Eigenschaften und Typen, die
einem irgendwie bekannt vorkommen, weit über den verlästerten Berufsstand
hinaus.
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