Melitta Breznik: "Das Umstellformat"
"Nach Berichten der Schwestern hätten die wahnhaften
Zustände in den letzten Monaten zugenommen, so behauptete die Patientin ständig,
sie sei immer noch adeliger Herkunft, man solle ihr doch endlich ihr Schloss zurückgeben,
alles sei von einem Umstellformat kontrolliert und stünde unter dessen Hypnose."
(Melitta Breznik)
Ein Buch kann wie ein Fächer sein. Es kann geradlinig einen Weg
verfolgen. Oder aber verschlungene Pfade beschreiten. Die Erzählung vom "Umstellformat"
ist eine seltene Kombination dieser drei Schreibweisen.
Der Fächer ist ein Nebeneinander verschiedenster Handlungsstränge, die auf teilweise
geheimnisvolle Art und Weise miteinander in Bezug stehen.
Der geradlinige Weg führt die Ich-Erzählerin zusammen mit ihrer
Mutter in psychiatrische Anstalten und Konzentrationslager,
wo Spuren der einst schizophrenen Großmutter aufgefunden werden wollen.
Die verschlungenen Pfade äußern
sich in mehreren Weggabelungen, die weg von der Großmutter hin zu Selbstreflexionen,
weg von den Selbstzweifeln hin zu Erinnerungen an Kindertage, weg von der verstörten
Mutter hin zu der Korrespondenz zwischen den Anstalten und dem Großvater, weg
von innerer Balance hin zur Zerrüttung führen.
Es erfordert
viel Aufmerksamkeit seitens des Lesers, um die Struktur der Geschichte so aufzulösen,
dass sich eine innere Einstellung zu den Protagonisten und deren vielschichtigen
Erlebnisdimensionen ergeben mag. Die ständigen Zeitsprünge sind so etwas wie ein
Werkzeug, mit dem eine Entflechtung der Komplexität erreicht werden kann. Wie
die berühmten russischen Puppen, die ineinander gestülpt sind, ist der Leser aufgefordert,
eine Geschichte nach der anderen zu enthüllen und in die Gesamterzählung zu integrieren.
Mehrere Gleise zu befahren birgt die Gefahr, sich zu verfahren.
Dies kann nur geschehen, wenn die Aufmerksamkeit von der Geschichte weggleitet,
wie weiter oben bereits angedeutet wurde. Das Problem schizophrener Menschen ist
jenes, die inneren Polaritäten nicht mehr nach innen und außen ausloten zu können.
Jenes Erzählgeflecht spiegelt also diametral die Zustände der Schizophrenie wider.
Die Enkelin vermag es, zu unterscheiden und Widerstände zu tarieren. Die Großmutter
war weggerissen aus der Realität und eingeschweißt in die Zerstörkraft von sich
ausbreitenden Widerständen. So stellt sich das Verhältnis zwischen der Enkelin
und der Großmutter dar: Diametral und dennoch eingewoben in die gleiche Suche
nach dem Punkt, der die Lösung des Kernproblems innerer Widerstände vorantreibt.
Das "Umstellformat" ist eine existenzielle Form, die nicht erklärt werden kann.
Es gilt, Spuren zu folgen, und nicht den Kontakt zur inneren Mitte zu verlieren.
Ein unangenehmer Strom inmitten dieser schwierigen Verhältnisse
ist die Nazizeit. Die Großmutter musste in dieser grauenhaften Gegenwart mit ihrer
Schizophrenie leben. Es ist allgemein bekannt, wie die Nazis mit geistig und/oder
physisch Behinderten umgingen. Neben sogenannten "wissenschaftlichen"
Versuchen, die oftmals den Tod der "Patienten" zur Folge hatten, wurden
diese "unwerten Elemente" in großer Zahl in den Gaskammern ausgemerzt. Am nachhaltigsten
in Erinnerung blieben dem Rezensenten die Briefe zwischen dem Großvater und den
Anstaltsleitern. Er wollte seine Frau zurückhaben, er wollte sie besuchen, er
erkundigte sich häufig nach ihrem Zustand. Die angeblichen "Psychiater" blieben
hart, und erteilten weder Besuchserlaubnis noch das Recht zur Rückholung der "Patientin".
Am Ende stirbt diese. Es sind die beängstigenden Worte der Verantwortlichen der
Anstalt, die aus dieser Erzählung wie meterhohe Stacheldrahtzäune hervorragen,
über die niemand steigen kann. Es ist schlichtweg entsetzlich, den Untergang der
Großmutter der Ich-Erzählerin mitzuverfolgen. Eine Spurensuche kann ein elementares
Wagnis sein. Melitta Breznik ist der Spagat gelungen.
(Jürgen Heimlich; 09/2002)
Melitta Breznik: "Das Umstellformat"
Luchterhand, 2002. 144 Seiten.
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Melitta Breznik wurde 1961 in
Kapfenberg, Steiermark, geboren. Sie lebt in Graubünden und Zürich.
Ein weiteres Buch der Autorin:
"Nordlicht"
Manchmal ist es an der Zeit, sein altes Leben hinter sich zu lassen. Dies
begreift eine Ärztin, als ihr die tägliche Arbeit in der Klinik von Tag zu Tag
schwerer fällt und sie erleben muss, wie sich ihr Mann immer mehr in seine
Arbeit, die Auflösung seiner Firma, zurückzieht. Eines Abends hält sie die
Spannungen nicht mehr aus und verlässt, einem spontanen Impuls folgend, die
gemeinsame Wohnung. Monate später, nachdem sich ihr Mann bereits einer anderen
Frau zugewandt hat, entschließt sie sich zu einem noch radikaleren Schritt: Sie
lässt alles hinter sich und fährt für einige Zeit nach Norwegen, um dort die
dunkle Jahreszeit zu verbringen.
Auf den Lofoten versucht sie aber nicht nur Abstand zu ihrem früheren Leben zu
finden. In ihrem Gepäck hat sie auch die Notizbücher ihres Vaters bei sich,
die dieser als Soldat während des Zweiten Weltkriegs geführt hat. Der Vater
war zeitweise auf den Lofoten stationiert gewesen, und die Ärztin versucht
dessen Spur aufzunehmen. Dabei lernt sie eine Norwegerin kennen, die ebenfalls
alleine lebt. Eine intensive Freundschaft zwischen den beiden Frauen beginnt.
Melitta Breznik hat nach kürzeren Prosabänden ihren ersten umfangreichen Roman
geschrieben. Weibliche Biografien und jüngere Geschichte kreuzen sich in diesem
Roman über einen Aufbruch aus einem erstarrten Leben auf kunstvolle Weise. (Luchterhand
Literaturverlag)
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