Julia Jusik: "Die Bräute Allahs"
Selbstmordattentäterinnen aus Tschetschenien
Es gibt Bücher, die sich wie ein
imaginäres Messer in den Kopf des Lesers bohren. Er ist fassungslos, bestürzt
und kaum in der Lage, Worte zu finden, um das beschriebene Szenario für sich und
Andere zugänglich zu machen. Die Existenz einer "inneren Sperre" gegen
bestialische Grausamkeit kollidiert mit dem Versuch, wahnsinnige Vorkommnisse zu
verstehen zu suchen. Dem Rezensenten ging es mit dem vorliegenden Buch
so.
Die "Nord-Ost"-Attentäterinnen sind dem Fernsehzuschauer wohl noch sehr gut
in Erinnerung. Wir schreiben das Jahr 2000: Da sind schwer vermummte "Kamikaze"-Frauen,
die das Dubrowska-Theater besetzt halten. Diese Frauen gaben sich als Schahidinnen
aus, die gekommen wären, Vergeltung für ihre ermordeten Ehemänner zu üben. Sie
trugen Sprengstoffgürtel und drohten, sich in die Luft zu sprengen. Die Blicke
waren allesamt auf diese "verrückten Fundamentalistinnen" gerichtet, welche
ihr eigenes Leben Allah zum Opfer bringen mochten, wenn es an der Zeit sei.
Doch keiner der Fernsehzuschauer wusste, WARUM diese Frauen in diese Situation
geraten waren ... VON WEM sie geschickt wurden, und WIE sie diesen "Fundamentalismus"
für sich proklamieren konnten.
Ein Schritt
zurück: Die erste Selbstmordattentäterin war Chawa Barajewa; ein 17-jähriges,
hübsches Mädchen. Sie war eine moderne, junge Frau und hatte nur das Pech, sich
in einen "Teufel" zu verlieben. Er hieß Arbi und indoktrinierte Chawa so lange,
bis sie dem Wahhabismus voll und ganz ergeben war. Sie glaubte schließlich, von
Allah im Paradies empfangen zu werden, wo auf sie Glück und Frieden warteten.
Arbi predigte, das Leben auf Erden sei Leiden auf dem Weg ins Paradies. Chawa
sollte auf diesem Weg nicht zaudern, und so flößte Arbi ihr Psychopharmaka
ein.
Die kleine Chawa ist vollgepumpt mit Psychopharmaka, als sie einen
LKW einem Militärposten entgegensteuert, der bald darauf detoniert. Sie wird in
Stücke gerissen und ihr eigener Cousin, eben jener Arbi, hatte ihren Tod
inszeniert. Er ließ Chawa filmen, wie sie auf einem Sofa sitzend aus dem Koran
vorliest und auf Fragen über den Sinn von Leben und Tod antwortet.
Was mit Chawa begann, setzt sich bis heute fort. Junge Frauen werden "ausgebildet",
um als Selbstmordattentäterinnen dem Wahhabismus und der Sache der tschetschenischen
Rebellen zu dienen. Es gibt keine Gnade für sie.
Warum
werden gerade Frauen in diese Rollen gedrängt? Tatsächlich hat sich bis dato
kein einziger Mann dazu bereit erklärt, sich selbst in die Luft zu sprengen. Die
Männer sind die Figuren im Hintergrund, die das Szenario steuern, und für die
"Ausbildung" verantwortlich zeichnen.
Die junge Journalistin Julia Jusik
ist ein Jahr lang durch Tschetschenien gereist, um die Angehörigen, Bekannten
und Freunde der Selbstmordattentäterinnen aufzusuchen und herauszubekommen,
welche Biografien hinter den Frauen stecken, die durch das Fernsehen als
vermummte, schwarze Gestalten in das Licht der Öffentlichkeit rückten. Sie gibt
damit jenen Frauen ein Gesicht, die es sonst nur verstecken konnten.
Es
ist ein Ding der Unmöglichkeit, die grauenhaften Geschehnisse im Einzelnen zu
schildern. Knapp drei Dutzend Schicksale liegen vor, und jedes EINZELNE ist für
sich betrachtet unfassbar traurig. Wichtig sind die Erkenntnisse, die aus den
Schicksalen heraus ablesbar sind, und die Julia Jusik zusammengefasst
hat:
Zum Einen sind neun von zehn Frauen, die sich in die Luft sprengen,
keinesfalls Fundamentalistinnen oder in irgendeiner Form radikal. Es sind
unglückliche, junge Frauen. Frauen, die schon sehr früh ihre Männer durch
schreckliche Anschläge auf deren Leben verloren haben. Frauen, die überhaupt
keinen Lichtstrahl am Horizont mehr sehen. Frauen, die von ihren Familien
verstoßen sind. Frauen, die in den Augen der Männer nicht mal den Dreck unter
den Fingernägeln wert sind. Frauen, die somit leichte Beute sind, wenn es um die
"Ausbildung" von Selbstmordattentäterinnen geht.
Zum Anderen wissen die Frauen zunächst NIE, wofür sie ausgebildet werden. Sie
werden in die Berge verschleppt, fristen dort ein trostloses Dasein und werden
mit der Sache dienlichen Koranversen bombardiert und indoktriniert. Sie hören
die schrecklichen Lieder der Wahhabiten solange, bis sie selbst daran glauben.
Sie sollen dahin gebracht werden, unstillbaren Hass in sich zu erzeugen. Hass
gegen die Menschen, die das tschetschenische Volk Tag für Tag demütigen. Menschen,
die Männer lebendig anzünden und in vorbereitete Gruben werfen, wo sie minutenlang
schreien, bis ihr Leben buchstäblich erlischt. Menschen, die andere Menschen
nur so "zum Spaß" umbringen, weil sie dem "falschen" Volk angehören.
"Die Bräute Allahs" sprengen sich selbst in die Luft, weil sie
sich nicht wehren können. Nein, mehr noch: Sie sprengen sich gar nicht selbst in
die Luft, sondern werden in die Luft gesprengt. Irgendein Mann drückt auf einen
Knopf, und die Bombe geht hoch. Die Frauen können sich gar nicht selbst in die
Luft sprengen. Die wenigen, die es hätten tun können, haben es so gut wie nie
getan.
Männer haben sich das Vertrauen dieser Frauen erschlichen, um ihre
Sache durchziehen zu können. Sie wenden Methoden an, die nie zimperlich sind.
Manchmal dauert es Monate, bis die Frauen stark genug gebrochen sind. Dann
können sie in den Tod geschickt werden und viele unschuldige Menschen mitreißen.
Das mag ihre Mission sein.
Die Frauen von "Nord-Ost" haben nie vorgehabt,
sich selbst in die Luft zu sprengen. Sie trugen allesamt Sprengstoffgürtel; doch
keine einzige hat auch nur den Versuch unternommen, ihr Leben zu opfern, um
viele andere Menschenleben zu Tode zu bringen. Die Frauen sind nichts als
Marionetten in einem Spiel, das sie nur verlieren können. Die Auftraggeber, die
Drahtzieher, sind BEKANNT. Die russischen Geheimdienste wissen, wer für die
grauenhaften Anschläge verantwortlich ist. Doch die Köpfe dieser Organisation,
die in Aserbaidschan ihre Zentralen haben, dürfen weiter ihr Unwesen treiben.
Ihnen passiert nichts. Ihre Häuser werden nicht angezündet. Zum Unterschied zu
den Häusern der Verwandten und Familien der Attentäterinnen.
Julia Jusik
ist entsetzt darüber, dass ihr Buch überhaupt nichts bewirkt hat. Sie hat Namen
genannt, sie kennt die Zentralen, wo die "Ausbildungen" stattfinden. Sie kennt
die Köpfe der Organisation. Sie weiß über die Hintergründe Bescheid. Sie hat
geschrieben, dass psychisch gestörte Frauen als Attentäterinnen ausgewählt
wurden. Sie hat alles getan, um die Dinge so zu erklären, wie sie sind. Ihr Buch
war bereits erschienen, als Beslan "passierte". Mindestens 600 bis 800 Kinder
kamen ums Leben, und unter den Terroristen waren zwei junge, schwarz gekleidete
Frauen. Julia Jusik schreibt vom "Fließband des Todes", das scheinbar nicht zu
stoppen ist. Täglich kann wieder ein Attentat geschehen und unschuldige Menschen
töten. Es gibt offenbar kein Ende. Die Autorin hat prophezeit, was alles
passieren kann. Sie hat damit jene Menschen verstört, die ihr Buch auf eine Art
"schwarze Liste" setzten.
Die letzten Zeilen von Julia Jusik sind nur in
der auf deutsch übersetzten Ausgabe enthalten und stammen vom 23. Oktober
2004:
"In den zwei Jahren, die seit der tragischen Erstürmung des Musicals
'Nord-Ost' im Dubrowska-Theater vergangen sind, hat sich in meinem Land nichts
verändert. Oder doch: Der Tod hat nun keine Namen mehr. Er hat nur noch ein
Geschlecht - und das ist weiblich ..."
Die Situation erscheint hoffnungslos. Das imaginäre Messer im Kopf des Lesers
wird sich nur schwer nach einer solchen Lektüre lösen lassen. Es ist unmöglich,
nicht fassungslos und bestürzt das Buch zuzuschlagen und mit dem Tagewerk einen
Moment inne zu halten, um über jene Frauen nachzudenken, die vor lauter Hoffnungslosigkeit
ihr Leben für Allah hingeben, da sie davon überzeugt worden sind, das Paradies
warte auf sie ...
(Jürgen Heimlich; 12/2004)
Julia Jusik: "Die Bräute
Allahs"
(Originaltitel "Nevezty Allakha")
NP, 2004. 171
Seiten.
ISBN 3-85326-373-9.
ca. EUR 17,90. Buch bei Libri.de
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Julia Jusik, 1981 in Donetsk geboren, arbeitete nach Abschluss eines Journalistik-Studiums im Rostover Büro der "Komsomolskaya Pravda", wurde Redaktionsleiterin und wechselte später nach Moskau. 2002 fuhr sie für eine erste, später preisgekrönte Reportage über die Selbstmordattentäterinnen nach Tschetschenien. Nach dem Attentat im Musicaltheater "Nord-Ost" verließ sie die Zeitung, um auf eigene Faust für dieses Buch zu recherchieren. Seit Jänner 2004 arbeitet sie für die russische Ausgabe von "Newsweek".