"Wolfgang Borchert. Das Gesamtwerk"
Herausgegeben von Michael Töteberg unter Mitarbeit von Irmgard Schindler
Ein
Mann kommt nach
Deutschland
Ein Mann kommt nach Deutschland. Mit diesem einleitenden Satz beginnt
Wolfgang
Borcherts Stück "Draußen vor der Tür". Ein
Mann kommt nach
Deutschland. So lautete auch der ursprüngliche Arbeitstitel
des Stückes.
Dieser Mann ist Beckmann, ein Kriegsheimkehrer, einer von den vielen
Beckmännern,
Kriegsheimkehrern. Auch Wolfgang Borchert kommt zurück nach
Deutschland, zurück
aus dem Krieg. Endstation Hamburg. Drei Endstationen, das
weiß Frau Kramer, die
gesichtslose Frau aus "Draußen vor der Tür", gibt es
in Hamburg. Das
Gefängnis in Fuhlsbüttel, die Irrenanstalt in
Alsterdorf, den Friedhof in
Ohlsdorf. Für Wolfgang Borchert sollte es der Friedhof sein,
und wahrscheinlich
war die Ahnung um seinen baldigen Tod schon dunkel an seinem
Erwartungshorizont
heraufgezogen. Denn der Krieg hatte seine Spuren hinterlassen, sowohl
körperlich
als auch psychisch. Es fällt dem Heimkehrer schwer, die
Schwelle zu überschreiten,
die in das neue Zeitalter führt, die Tür zur
Normalität zu durchschreiten, an
seinen Stiefeln klebt hartnäckig die mit Blut und
Tränen durchtränkte Erde
der Schützengräben und Schlachtfelder. Klebte auch
Blut an seinen Händen? Wer
weiß es? Gott? Aber den gibt es nicht. Sagt Borchert. Und das
ist Gottes
einzige Entschuldigung, dass es ihn nicht gibt. Sagt Borchert. Aber uns
gibt es,
die Menschen. Das sagt er auch. "Und der Mörder bin
ich. Wer schützt
uns davor, dass wir nicht Mörder werden? Wir werden jeden Tag
ermordet, und
jeden Tag begehen wir einen Mord! Wir gehen jeden Tag an einem Mord
vorbei!"
So heißt es in "Draußen vor der Tür". Ja,
und was ist unsere
Entschuldigung?
Borchert will sich das Erlebte von der Seele schreiben. Auf Kosten
seiner
angeschlagenen Gesundheit arbeitet er wie besessen, schreibt wie unter
Zeitdruck, als wüsste er bereits von seinem nahe
bevorstehenden Tod. Aber im
selben Maße wie die Zeit verrinnt ihm auch die Kraft. Ein
geplanter Roman,
"Persil bleibt Persil", in dem Borchert den Untergang Hamburgs durch
die Bombenangriffe der Alliierten schildern wollte, gelangt nicht mehr
zur Ausführung.
"Unser Pusteblumendasein", das einzige erhaltene Fragment zu Borcherts
Roman, findet sich in dieser Ausgabe des Gesamtwerks. Fast alle seine
Werke
tragen den Stempel der gerade zurückliegenden
Kriegserlebnisse, der
Internierungen und Fronteinsätze. Und die Gespenster der
jüngsten
Vergangenheit suchen seine Träume heim. Nachts erheben sie
sich aus ihren Gräbern,
kriechen unter den grauen Trümmern hervor. Aber es
wächst Gras darüber, über
die Gräber und über die Trümmer, "eisig
übertautes Friedhofsgras,
Ruinengras. Grausames, grässliches aber auch gnädiges
Gras", wie in
der Erzählung "Billbrook". Borchert unternimmt den Versuch,
das unsägliche
Erlebte, das Unsagbare ins Wort zu bannen. Von daher ist auch sein
etwas überladener
Stil zu erklären, die zahlreichen Wortschöpfungen,
die Anhäufung von
Adjektiven, das Fetzenhafte, das ewige Da Capo der wie
Beschwörungen anmutenden
Wiederholungen, das Aufrüttelnde der Appelle und der
Hilfeschreie. Es ist die
verzweifelte Suche nach einem adäquaten Ausdruck für
das Unaussprechliche, für
das Grauen des Krieges. In der Erzählung "Im Mai, im Mai,
schrie der
Kuckuck" schreibt Borchert über den Krieg: "Es
fehlen uns die
Vokabeln, um nur eine Sekunde von ihm wiederzugeben." Und so
berichtet
er auch nicht direkt über die Kriegshandlungen,
sondern beschreibt mehr
deren Auswirkungen auf den Menschen. Ja, die Menschen sind im Grunde
ihres
Wesens gut, aber warum trifft man heutzutage immer wieder auf die
wenigen
schlechten, die es gibt? So oder so ähnlich fragt sich
Beckmann. General a. D.,
Unteroffizier a. D., Mitmensch a. D., ist es das, was der Krieg aus den
Menschen
gemacht hat?
Abschied, Traurigkeit und die Gleichgültigkeit der Menschen
ihren Mitmenschen
gegenüber, das sind die großen Themen Borcherts,
doch die Hoffnung auf
Menschlichkeit bleibt nicht ganz außen vor, bleibt nicht ganz
und endgültig
draußen vor der Tür. Beinahe jede von Borcherts
Erzählungen hinterlässt
einen bohrenden Stachel in der Seele des Lesers. Zum Beispiel die kurze
Erzählung
"Das Brot" in ihrer beklemmenden Eindringlichkeit und doch auch Trost
vermittelnden Anteilnahme an den Sorgen und Nöten des
Nächsten. "Das Brot"
ist eine der besten Kurzgeschichten, die der Rezensent kennt.
Heinrich
Böll
hatte sie bereits einmal als Musterbeispiel einer Kurzgeschichte
apostrophiert.
Wolfgang Borcherts bekanntester Text jedoch, noch bekannter als
"Draußen
vor der Tür", wurde "Dann gibt es nur eins", und dieser ist
bis
heute der bekannteste Text des Autors geblieben. Ein leidenschaftlicher
Appell
zum Nein-Sagen, zur Verweigerung ist es und so wurde es
gleichermaßen zu einem
Manifest für Pazifisten in aller Welt. Drei frühe
dramatische Werke aus
Borcherts Jugend wurden nicht in diese Werkausgabe mit aufgenommen,
dafür
fanden die frühen Gedichte, auch zum Teil Werke
experimentellen, unfertigen
Charakters, Eingang in die Sammlung.
Wolfgang Borchert wurde zum Sprecher einer betrogenen Generation, der
Generation, die um ihre Jugend betrogen wurde. Und nicht nur ihrer
Jugend, auch
ihrer Sprache wurde sie beraubt. Urs Widmer sagte in seinen
Frankfurter
Poetikvorlesungen über diese Generation: "Sie
verfügten nicht, wie
dies alle Generationen zuvor getan hatten, über einen
gesicherten Fundus des
Sprechens und Denkens. Die jungen Schriftsteller nach 1945 hatten keine
Sprache
mehr. Jedes Wort erwies sich als, sagen wir, krank. Das Wort 'gesund'
war eines
der kränksten, war just die fühllose Bereitschaft zu
Gewalt und Mord."
Wolfgang Borchert selbst sprach den gleichen Gedanken in eine
musikalische
Metapher gekleidet aus. "Wer schreibt für uns eine
neue Harmonielehre?
Wir brauchen keine wohltemperierten Klaviere mehr. Wir selbst sind
zuviel
Dissonanz." Den oft gegen Borchert erhobenen Vorwurf, die
Nazi-Vergangenheit nicht oder nur unzureichend aufgearbeitet zu haben,
die
Verbrechen an dem
jüdischen Volk und an den
Kriegsgegnern aus
seinen Texten
ausgeblendet zu haben, kann man so einfach nicht gelten lassen. Die
damalige
Gesellschaft wäre unter einem alles erdrückenden
Schuldbewusstsein
zusammengebrochen. Und für die gewaltige Anstrengung des
Wiederaufbaus mussten
alle zusammenstehen, Täter, Opfer und Mitläufer. Und
der zu entrichtende Preis
für diesen notwendigen Konsens war eben das
vorübergehende Verdrängen und
Verschweigen, wie Michael Töteberg in seinem Nachwort sehr
richtig
argumentiert. Der Rezensent ist auch nicht der Meinung Jan Phillip
Reemtsmas,
dass der Dichter Wolfgang Borchert manchmal
überschätzt wird. Gewiss fehlt
seinen Texten die thematische Vielfalt, aber er hatte ja nur zwei Jahre
zum
Schreiben. Und es war ihm leider nicht die Zeit gegeben, sein Potenzial
voll
auszuschöpfen. Ein wacher und reger Geist wie der seine
hätte sicherlich noch
viele andere Themen und Problemfelder beackert, fruchtbringend beackert.
Abschließend sei gesagt, dass, wenn er auch wie kaum ein
zweiter Autor seine
Themen aus den Zeitströmungen schöpfte, in deren
brauner Brühe zu schwimmen
er nun einmal gezwungen war, so ist Wolfgang Borchert doch bis heute
ein
aktueller Schriftsteller geblieben, ganz besonders für die
jüngere Generation,
was daran liegen mag, dass er selber jung war, als er sein Werk
geschrieben hat.
Und gewiss werden ihn auch künftige Generationen immer wieder
neu entdecken und
schätzen lernen.
(Werner Fletcher; 10/2007)
"Wolfgang
Borchert. Das Gesamtwerk"
Hrsg. von Michael Töteberg unter Mitarbeit von Irmgard
Schindler.
Rowohlt Reinbek, 2007. 576 Seiten.
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Ein
weiterer Buchtipp:
Gordon Burgess: "Wolfgang Borchert. Ich glaube an mein Glück.
Eine
Biografie"
Die Sicht auf Wolfgang Borchert (1921-1947) wurde bisher von seinem
tragischen
Lebensende her bestimmt. Es ist das Bild des genialen Dichters, der
seine Werke
dem vom Fieber zerrütteten Geist und Körper abrang
und in die Welt
hinausschrie. Demnach gipfelte sein Lebensweg darin, dass er in knapp
zwei
Jahren das Antikriegsstück "Draußen vor der
Tür" und rund 50 Erzählungen
verfasste. Diese Fakten stimmen, trotzdem ergibt sich ein anderes Bild,
wenn
Borcherts Entwicklung vom Schauspieler zum Schriftsteller genauer
betrachtet
wird. Das ist der Ansatz dieser Biografie. Sie stützt sich auf
eine Fülle
neuer, bisher unbekannter Materialien - unveröffentlichte oder
kaum bekannte
Briefe und Texte Borcherts. (Aufbau)
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