M. Blecher: "Vernarbte Herzen"


M. Blecher ist einer der vielen vergessenen Schriftsteller Europas. Er stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie in der rumänischen Provinz und wurde dort 1909 in Bolosomi, einem verkommenen Städtchen in der Moldau, geboren. Schon in früher Kindheit kam er mit seinen Eltern nach Roman, wo er lebte bis zu seinem frühen Tod.

Er studierte, eher als das die meisten heute tun, Medizin in Paris und entwickelte sich zu einem Kenner der französischen und englischen Literatur, von der er Teile auch in seine Muttersprache übersetzte. Mit 19 Jahren erkrankte M. Blecher an einer Form der Knochentuberkulose und verbrachte sein weiteres Leben mit zum Teil qualvollen Aufenthalten in Krankenhäusern und Sanatorien.

Dennoch hält er während dieser Zeit unter fast unmenschlichen Anstrengungen an seiner literarischen Tätigkeit und an der permanenten intellektuellen und philosophischen Auseinandersetzung mit der Welt, mit seiner durch die Krankheit beschränkten Welt, fest.
Sein Werk ist nicht umfangreich, bis zu seinem Tod 1938 mit 29 Jahren blieb ihm auch nicht viel Zeit. Es ging im Faschismus und Stalinismus komplett verloren. Erst 1970 wurde sein erstes Buch "Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit", erstmals 1936 erschienen und von der jungen, existenzialistisch gestimmten Avantgarde Rumäniens begeistert gefeiert, in Rumänien wiederaufgelegt, ohne dass es irgendeine Wirkung hinterließ. Auch eine deutsche Übersetzung, 1990 in einem kleinen Berliner Verlag erschienen, blieb relativ unbeachtet.

Nun erhalten die Bücher M. Blechers dankenswerterweise im Suhrkamp Verlag eine neue Chance. "Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit" erschien, mit einem Vorwort von Herta Müller versehen, 2004, und nun folgt, ebenfalls in der traditionsreichen Bibliothek Suhrkamp, Blechers zweites Buch "Vernarbte Herzen", ein Roman, der mit einer fast schmerzlich kühlen und intensiven Sprache den langen Prozess der Erosion einer Seele beschreibt und ihre schließliche Vernarbung.

"Vernarbte Herzen" schildert die Geschichte des 21- jährigen Emanuel, eines rumänischen Chemiestudenten in Paris, der an einer Form der Knochentuberkulose erkrankt und fast ein ganzes Jahr in einem speziellen Sanatorium in Berk an der französischen Atlantikküste verbringt, bevor er es mit unbekanntem Ziel verlässt.

Die Schilderungen der Qualen Emanuels, die Beschreibung der klinikinternen "Kultur", das Umgehen der Patienten miteinander, gehören zum Eindrücklichsten, was ich in der letzten Zeit gelesen habe.

Etwas, das Emanuels Freund Ernest eines Tages zu ihm sagt und woran sich Emanuel kurz vor seiner Abreise erinnert, steht nicht nur für das Lebensgefühl dieser Ausgestoßenen, sondern ist auch eine von Blecher selbst unter Qualen angenommene Lebenseinsicht:
"Es gibt Augenblicke, da bist du kleiner als du selbst und kleiner als irgendetwas sonst. Kleiner als jeder Gegenstand, den du anschaust, kleiner als ein Stuhl, als ein Tisch oder ein Stück Holz. Du befindest dich unterhalb der Dinge, unterhalb der Realität, unter deinem eigenen Leben und unter dem, was um dich herum geschieht ... Du bist eine vergänglichere und ausgefranstere Form als jene der elementaren, ungestalten Materie. Du bedürftest einer gewaltigen Anstrengung, um die einfache Trägheit der Steine zu begreifen, dabei verharrst du aufgelöst, reduziert auf weniger als du selbst in der Unmöglichkeit, diese Anstrengung zu unternehmen." (S. 205)

Blechers autobiografische Prosa sei ein "Schreiben gegen die eigene Existenz", meint Ernest Wichner im November 2005 in seinem Nachwort zu "Vernarbte Herzen". Dieses einfühlsame und aufschlussreiche Nachwort sollte vor Beginn der Lektüre des Romans gelesen werden.

"Blechers Texte", so Wichner, "begeben sich auf die Suche nach diesen leuchtenden Flecken und undeutlichen Bildern. Sie holen sie herauf aus dem Dunkel der Person und fügen sie ein in fiktionale Konstrukte, die sich nah an den biografischen Tatsachen bewegen, ohne doch autobiografische Erzählung zu werden. Seine literarischen Ich-Konstruktionen entwerfen Personen, die sich in einem von ästhetischen Übereinkünften abgesicherten Raum bewegen und sich dort als beschädigter Teil eines Ganzen erleben können, dem für die Dauer der Erzählungen, in der alle Hoffnungslosigkeiten und Melancholien mittransportiert werden, auch ein Stück Sinnhaftigkeit beikommt."

So erfährt der Leser bei allem Dunklen und Schmerzhaften, über das dieser Roman erzählt, etwas von einer Kraft, die aus einer anderen Welt zu kommen scheint, einer fast übermenschlichen Kraft, die, ohne von irgendetwas Religiösem gespeist zu werden, sich der Existenz stellt und gegen sie antritt.

Wie viele solcher vergessener literarischen Kleinode harren wohl noch der Neuveröffentlichung durch mutige Verlage?

(Winfried Stanzick; 04/2006)


M. Blecher: "Vernarbte Herzen"
Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner.
Suhrkamp, 2006. 222 Seiten.
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Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Beleuchtete Höhle"

Nachgelassene Prosa.
M. Blechers letztes Werk, die "Beleuchtete Höhle", das er nicht mehr korrigieren konnte, schreibt den Roman "Vernarbte Herzen" fort. Unverhüllt autobiografisch und mit einer atemberaubenden Klarheit erzählt der noch nicht 30-jährige Autor (1909-1938), wie ihm, dem hoffnungslos Erkrankten, in Augenblicken größten Leidens die Zusammenhänge des Lebens, die geheimnisvollen Übergänge zwischen Realität, Traum und Schreiben einsichtig werden. Blechers Poetologie des Leidens kontrapunktiert seine Erzählungen aus Berck, die expressionistischen Schilderungen von Paris oder die Reminiszenzen an ein Sanatorium in Rumänien.
Ernest Wichners umfangreicher Essay gibt erstmals Einblick in die bisher nur bruchstückhaft bekannte Biografie des Autors. (Suhrkamp)
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"Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit"
Eine Wiese, "irgendwo auf der Welt", ein Sommernachmittag, "der sich chaotisch in die Glut der Sonne verirrt hatte", eine verwahrloste Uferböschung - verfluchte oder verzauberte Orte sind es, an denen die Ich-Figur von "Krisen" heimgesucht wird. "Dort fühlte ich noch tiefer und noch schmerzhafter, dass ich auf dieser Welt nichts zu tun hatte, nichts weiter, als durch Parks zu streunen, über staubige, von der Sonne verbrannte, wüste und verwilderte Wiesen. Es war ein Herumstreunen, das mir letztlich das Herz zerriss." Das Vagabundieren des jugendlichen Protagonisten ist der Widerschein einer inneren Handlung: die Qualen und Exzesse der Wahrnehmung auf der Suche nach Realität, nach sich selbst in den Gegenständen, Orten, Personen. Je gefräßiger, obsessiver er sich ihnen nähert, um so unwirklicher wird er sich selbst, um so intensiver und kälter erstrahlt ihm die Welt.
Der 1936 in Rumänien erschienene Entwicklungsroman des jüdischen Schriftstellers M. Blecher (1909-1938) ist ein Meilenstein der mitteleuropäischen Moderne. Die Gestaltung der "Unwirklichkeit und ihrer fantastischen inneren Ereignisse" verbindet Blecher mit Miloš Crnjanski, Géza Csáth und Bruno Schulz, aber auch mit Franz Kafka und Robert Walser. Von Eugène Ionesco gefeiert, hatte das Werk in den Jahrzehnten der Diktatur keine Lebenschance mehr. "Wahrscheinlich fürchtet man sich vor diesem Buch, weil es einer beklemmenden Wahrhaftigkeit das Wort redet", schreibt Herta Müller über das Meisterwerk des 27jährigen Autors. (Suhrkamp)
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