Dr. Thomas Müller: "Bestie Mensch"

Tarnung. Lüge. Strategie.


"Bestie Mensch" - eine Gedankenreise in Grenzbereiche

Im Verzeichnis der gerichtlich beeideten Sachverständigen (unter https://www.jusline.at/) findet sich ein Eintrag zur Person Dr. Thomas Müller, nachstehend in verkürzter Form wiedergegeben:
"Mag. Dr. Thomas Müller, Polizeibeamter, Kriminalpsychologe, Leiter des Kriminalpsych. Dienstes im BMI, p.A. BMI, Fachgebiet: Pädagogik und Psychologie."

Wer kennt ihn nicht, den messerscharf formulierenden gebürtigen Tiroler (Jahrgang 1964), der regelmäßig in den Medien erscheint, wenn - wie Wolf Haas' Ermittler Brenner sagen würde - "schon wieder etwas passiert ist"!


Dr. Müller beim Signieren
Foto: Doris Krestan

Europas führender Kriminalpsychologe Dr. Thomas Müller ermöglicht in "Bestie Mensch" Einblicke in sein faszinierendes Tätigkeitsfeld, indem er den Leser quasi als Zuhörer und Beobachter in entscheidenden Momenten an Gesprächen mit verurteilten Straftätern teilhaben und dadurch in fremdartige Befindlichkeitswelten eintauchen lässt, Grundbegriffe der Kriminalpsychologie und den grenzübergreifenden Aufbau der interdisziplinären Zusammenarbeit von Spezialisten zum Zweck der Verbrechensaufklärung und -prävention erschließt. Beispielsweise resultieren aus derartigen wissenschaftlichen Kooperationen Fahndungsstrategien oder auch zusätzliche Hilfestellungen für Psychiater bei der Erstellung von Gutachten im Zusammenhang mit vorzeitigen Haftentlassungen. (Wie gefährlich ist der Verurteilte? Besteht Wiederholungsgefahr nach der Entlassung?)

Die - wenn der Ausdruck gestattet ist - "Rahmenhandlung" von "Bestie Mensch" liefert ein Interview, das Dr. Müller am 17. Oktober 2003 im Hochsicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt Hamburg-Fuhlsbüttl mit dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Straftäter Lutz Reinstrom führte, und das aufgrund der Dynamik des Verlaufes für hochgradige Spannung während der gesamten Lektüre sorgt, denn Dr. Thomas Müller bedient sich der Rückblenden als Stilmittel, um die Ereignisse der vergangenen Jahre chronologisch geordnet darzustellen. Zwischendurch kehrt man immer wieder zur durchaus beunruhigenden Interviewsituation zurück.
Rein äußerlich betrachtet erscheint alles verhältnismäßig sicher: Der Gefängnisinsasse bietet mitgebrachten Tee an, die Männer sitzen einander gegenüber. Doch der Schein trügt: Ein nervenaufreibendes Katz-und-Maus-Spiel nimmt seinen Lauf, wobei Lutz Reinstrom unmerklich die Kontrolle über das Gespräch an sich zieht, indem er das Verhalten seines Besuchers regelrecht vorhersieht, den Gesprächspartner zermürbt und manipuliert, Macht ausübt, bis Dr. Müller schließlich mit einem verbal geführten Befreiungsschlag Reinstroms "Spinnennetz" aus Tarnung, Lüge und Strategie zerreißt.
Ein Leser, der leichtfertig oder voreilig meint, ihm könne so etwas auf keinen Fall widerfahren, er könne "das Böse" zuverlässig erkennen, wird rasch einsehen müssen, dass er einer Täuschung unterliegt.
Dr. Müller: "Die Annahme zu wissen, was man jemandem zutrauen kann und was nicht, ist der größte Irrtum und bestenfalls die Basis für Vorurteile. Dieser Irrtum ist der Nährboden, in dem die Tarnung der Falschheit zu wachsen beginnt.", und "Wer glaubt erkennen zu können, was jemand in der Lage ist zu tun, hat die Tarnung nicht erkannt und ist zum potenziellen Opfer einer klassischen Lüge geworden, nämlich seiner eigenen."

Dr. Müller beschreibt seinen beruflichen Werdegang ebenso wie aufsehenerregende Kriminalfälle, wobei er sich zugleich ernsthaft und ironisch als "Zecke" und "übernachhaltig" bezeichnet, bezogen auf seinen Wissensdurst und sein Bestreben, Zugang zu möglichst vielen Aspekten menschlicher Entscheidungen, Bedürfnisse und damit verbundener Verhaltensweisen zu finden, sich weiterzubilden, seine Erkenntnisse zu überprüfen, umfangreiche Datensammlungen anzulegen und die Psychologie für die Kriminalistik systematisch nutzbar zu machen.
Eine kuriose Anekdote enthüllt, wie eine 1982 stattgefundene polizeiliche Amtshandlung ausschlaggebend für Thomas Müllers Berufswahl wurde.
Offenbar von Natur aus mit besonderer Wahrnehmungsfähigkeit sowie regem Interesse für alles, was die nüchterne Analyse des menschlichen Verhaltens in bestimmten Situationen betrifft, ausgestattet, erkundete Thomas Müller bereits als Streifenpolizist in Tirol in intensiven Gesprächen die Welt der Unterstandslosen, Prostituierten und Bettler, bisweilen argwöhnisch beäugt von seinen Berufskollegen, wie er schreibt.
In den Jahren 1984 bis 1991  studierte er neben seiner Arbeit als Streifenpolizist Psychologie, verdingte sich kurzfristig - für Feldforschungsexperimente - als Teilzeitreiseleiter ("Ich wollte Menschen zu einem Zeitpunkt kennen lernen und beobachten, wenn sie sich in einer Art freiwilliger Abhängigkeit befanden. Ich wollte nachvollziehen, warum manche Leute dem Drang der eigentlichen Individualität, den freien Entscheidungen, mehr Nachdruck verleihen und andere sich eher der Gruppe anschließen ...").
Im Jahr 1991 führte ein Gespräch mit einem Mann, der nach einem untypisch verlaufenen Überfall auf ein Postamt damit gedroht hatte, sich eine Kugel in den Kopf zu schießen, zur Erkenntnis, dass es nicht entscheidend ist, was jemand sagt, sondern was er getan hat, auf welche Art und Weise und inwiefern derjenige versucht hat, seine Umwelt zu verändern und dadurch seine individuellen Bedürfnisse zu befriedigen ...
Die nächste Station in Dr. Müllers beruflicher Laufbahn war 1992 die Bundeshauptstadt, konkret das Wiener Sicherheitsbüro, wo er sich "wie ein riesiger Bücherwurm" durch Aktenberge arbeitete und seinen Erfahrungsschatz mehrte.
Michael Sika, damals Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit, der für neue Methoden und Ansätze offen war, erteilte Dr. Müller den Auftrag, den Kriminalpsychologischen Dienst aufzubauen. Zu jener Zeit beriet Dr. Müller auch den Leiter der Sonderkommission im Fall Jack Unterweger. In weiterer Folge erfüllte sich sein langgehegter Wunsch, an der FBI-Akademie in Quantico mit erfahrenen Experten der Verhaltensforschungseinheit zusammenzuarbeiten und von ihnen zu lernen; Stichwort: Tatortanalyse (d.h. Aufarbeitung der Einzelentscheidungen des Täters am Tatort).
1993 lernte Dr. Müller Robert K. Ressler, den ehemals führenden Mitarbeiter in der FBI-Abteilung für Verhaltensforschung und Direktor der Forensic Behavioral Services International, kennen; dies war der Beginn einer für beide Seiten interessanten Zusammenarbeit. 

Leitmotivisch ziehen sich wirkungsvolle Aussagen wie John Steinbecks Satz "Es gibt Menschen, die in Erfahrungswelten leben, die wir nicht betreten können", das sudanesische Sprichwort "Suche den Feind im Schatten deiner Hütte", oder auch "Man kann das Verhalten eines anderen Menschen nicht ändern" durch "Bestie Mensch", was dazu führt, dass man sich während der Lektüre immer wieder mit eigenen Erwartungshaltungen, moralischen Vorstellungen und vorgefassten Ansichten konfrontiert sieht und dazu angeregt wird, diese zumindest kritisch zu hinterfragen.

Es ist nicht Aufgabe der Kriminalpsychologen, zu urteilen. Ihr Metier ist das Vergleichen von Verhaltensweisen von Personen unter ähnlich gelagerten Umständen. Es geht darum, aus dem Verhalten einer unbekannten Person Ermittlungsansätze abzuleiten.
Will man brauchbare Vergleichsmöglichkeiten erschließen, aufgrund derer jeweils ähnlich gelagerte Kriminalfälle analysiert werden können, ist es unabdingbar, mit verurteilten Tätern zu sprechen, um von ihnen Aufschluss über am Tatort getroffene Entscheidungen zu erhalten, denn, so Dr. Müller: "Mord ist nicht gleich Mord. Verhalten ist nicht gleich Verhalten und messen bedeutet vergleichen."
Über die Jahre aus zahlreichen Interviews mit Insassen von Strafvollzugsanstalten in Europa und den USA gewonnene Informationen ergeben nach systematischer Auswertung in Summe ein hilfreiches Netzwerk, dessen sich die Ermittler im Zuge ihrer Arbeit bedienen können.

Absolut lesenswert sind Dr. Müllers Ausführungen zur Arbeitsplatzkriminalität wie auch zu Gewaltfantasien und natürlich zu Kriminalfällen, die Österreich in Atem hielten (wie beispielsweise Franz Fuchs, Jack Unterweger, Elfriede "die schwarze Witwe") - um nur einige Beispiele für die in "Bestie Mensch" gebotene Themenvielfalt anzuführen.
Nicht fehlen darf auch das vielbeachtete Projekt "Theatertäter - Theaterklassiker untersucht von Europas führendem Kriminal-Profiler", im Zuge dessen Dr. Thomas Müller infolge "übernachhaltiger" Anregung seitens des Dramaturgen Jochen Herdieckerhoff Schlüsselszenen aus Shakespeares Drama "Richard III." und Schillers "Die Räuber" analysierte, indem er diese mit Spielzeugfiguren nachstellte. Beworben wurden die außergewöhnlichen Vorführungen übrigens folgendermaßen: "In seiner einzigartigen Rekonstruktion des Theaterklassikers mit Playmobil-Figuren und anhand von Fallbeispielen aus der eigenen Berufspraxis weist Müller spielerisch nach, dass etwa seine ehemaligen Klienten Jack Unterweger und Franz Fuchs über 'bemerkenswerte Eigenschaften' verfügten, die bereits Shakespeare in seinem Königsdrama 'Richard III.' detailliert beschrieben hat."

Mit detaillierten Falldokumentationen und überwältigendem Faktenreichtum fesselt "Bestie Mensch" von der ersten bis zur letzten Seite!

(kre; 09/2004)


Dr. Thomas Müller: "Bestie Mensch"
Ecowin, 2004. 192 Seiten.
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Ein weiteres Buch von Dr. Thomas Müller:

"Gierige Bestie. Erfolg, Demütigung, Rache"

Am 10. Mai 2005 begann um 18:34 Uhr auf der Nordseite der Pont-de-la-Machine, jener kleinen Eisenbrücke, die faktisch den Genfersee von der Rhône abtrennt, eine Verhandlung, in der es um das Schicksal von Tausenden Menschen ging. Der Abbruch, das Scheitern des Gespräches wäre einer Katastrophe gleich gekommen. Es ging um Informationen, die in die falschen Hände geraten waren und die unter gar keinen Umständen an die Öffentlichkeit gelangen durften.
Thomas Müller fühlte sich sicher. Er war ausgebildet, solche Gespräche zu führen und beauftragt, die Daten zurückzubringen - und das mit fast uneingeschränkten Vollmachten. Doch je länger er sprach, desto mehr erkannte er, dass sich seine Argumente in Luft aufzulösen begannen, er bereits gegen sich selbst verhandelte. Er begann seine Standpunkte aufzugeben, vergaß seine Ausbildung und versagte in seiner arroganten Gier, erfolgreich sein zu müssen. Knapp zwei Stunden später, am südlichen Ende der Brücke, endete das Gespräch in einem Desaster. Ab diesem Zeitpunkt blieben dem Kriminalpsychologen noch wenige Minuten, um jenes Gesetz zu finden, welches einen gekränkten, gedemütigten, verbitterten und hasserfüllten, hochgradig intelligenten, sieben Sprachen mächtigen und hervorragend ausgebildeten EDV-Techniker davon abbringen konnte, die Bombe zu zünden. Eine Bombe, die mit Sicherheit in mehreren Staaten zu gesellschaftlichen Veränderungen geführt hätte. (Ecowin)
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