Greg Bear: "Das Darwin-Virus"

Eine glaubwürdige Betrachtung zur Reaktion des wissenschaftlichen und politischen Establishments auf eine medizinische Krisensituation


In einer Höhle in den Alpen - nahe Innsbruck - findet Mitch Rafelson als Begleiter zweier Bekannter in einer Höhle die Mumien zweier Neandertaler und ihres Kindes, die alle drei ein wenig ungewöhnlich aussehen. Beim Abstieg in einem Blizzard sterben seine beiden Begleiter und er wird in einem Krankenhaus wach, wo man ihn fragt, woher der Säugling, den einer seiner Begleiter ohne Mitchs Wissen mitgenommen hatte, gekommen ist. Mitch als Anthropologe, der wegen eines Streits um Indianerknochen in seinem Fachgebiet einen zweifelhaften Ruf hat, befindet sich plötzlich in Erklärungsnotständen.

Im Rahmen einer Kooperationsarbeit der Firma ihres Mannes befindet sich Kaye Lang in Georgien. Die Biologin hat einmal in der forensischen Medizin gearbeitet, und deswegen wird sie von einer Gruppe von UN-Arbeitern requiriert, als diese in der Nähe eines Dorfs ein Massengrab finden, das aus der näheren Vergangenheit zu stammen scheint. Die meisten Toten in diesem Grab sind schwangere Frauen, die durch den Leib geschossen wurden, und einige erschlagene Männer. Kurz nach der Aufnahme der Untersuchungen werden die UN-Arbeiter, Kaye und die russischen Friedenstruppen von der georgischen Regierung allerdings angewiesen, die Gegend zu verlassen. So bleibt das Rätsel dieses Massengrabs zunächst ungelöst. 

Zurück in den USA begibt sich Kaye wieder an ihre Arbeit, auch wenn es den Anschein hat, als befände sich die Firma ihres Mannes in finanziellen Schwierigkeiten. Sie ist in erster Linie Wissenschaftlerin und beschäftigt sich mit HERV, Virenfragmenten, die in der menschlichen DANN seit Jahrmillionen inaktiv ruhen und eventuell therapeutische Bedeutung haben könnten. Als ihr manisch-depressiver Mann Saul aber in einer seiner depressiven Phasen Selbstmord begeht, erfährt sie, dass die Firma von einem größeren Konzern akquiriert wurde, und sie selbst ist plötzlich arbeitslos. 

Das Center for Desease Control (CDC) in Atlanta ist schlecht besetzt und unterfinanziert, aber es versucht trotzdem seine Arbeit so gut wie möglich zu erledigen. Einer der wichtigsten und erfolgreichsten Mitarbeiter im Außendienst ist dabei Christopher Dicken, der einen besonderen Instinkt für Viren hat. Aus diesem Grund befand er sich auch zur selben Zeit wie Kaye Lang in Georgien, weil er einem bestimmten Virus auf der Spur war. Offensichtlich hat sich in den von Dr. Lang untersuchten HERV eine aktive Gruppe gebildet, die sich speziell auf die Geschlechtsgonaden und extrem auf schwangere Frauen auswirkt. Zunächst haben diese Frauen eine weibliche Fehlgeburt, worauf sie dann kurze Zeit später - ohne weiteren Sexualkontakt - noch einmal schwanger werden. Diese Erkrankungen treten ohne ein sichtbares Verteilungsmuster nach und nach in der ganzen Welt auf, und das CDC sowie das amerikanische Gesundheitswesen im Allgemeinen muss die internationale Gemeinschaft und auch die eigene Regierung von den weitreichenden Gefahren, die sich hier abzeichnen, überzeugen. 

Doch davon, dass es sich hierbei um eine behandlungsfähige und -notwendige Krankheit handelt, sind nicht alle Beteiligten überzeugt. Tatsächlich haben Kaye Lang, Mitch und Christopher den Verdacht, dass die Exprimierung dieser Virenbestandteile dazu dienen könnte, der menschlichen Rasse auf die nächste Evolutionsstufe zu helfen. Doch sie finden mit ihrer Meinung, die auch einigen etablierten Lehrmeinungen zur Evolution zuwider läuft, kein Gehör. So wird in den USA der medizinische Notstand ausgerufen, Schwangere werden angegriffen, offiziell registriert und zu Zwangsuntersuchungen gebracht. Eventuell überlebende Säuglinge sollen Mündel des Staates werden.  In dieser Situation entschließen sich Mitch und Kaye - die großen Gefallen aneinander gefunden haben - zu einem geheimen Selbstversuch, immer auf der Flucht vor staatlichen Kräften und einer verängstigten Bevölkerung.

Neben einem interessanten Wissenschaftsroman ist dieses Buch auch eine glaubwürdige Betrachtung zur Reaktion des wissenschaftlichen und politischen Establishments auf eine medizinische Krisensituation, die uns zeigt, wie nahe ein Aufheben der Grundrechte unter Umständen ist - was uns ja die Folgen von 9/11 teilweise in einigen Ländern gezeigt haben. Angst ist ein großer Triebfaktor für repressive Maßnahmen, selbst in den vermeintlich freiesten Gesellschaften. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das Buch deswegen interessant, weil es viele aktuelle Erkenntnisse und Theorien über Genetik und Evolution vorstellt, die - zusammen mit den wichtigsten Fachbegriffen - im Anhang des Romans auch noch mal genauer erklärt werden. Die Charakterezeichnung und die Motivationen in einzelnen Momenten sind gelegentlich ein wenig oberflächlich oder nicht ganz nachvollziehbar, aber im Großen und Ganzen ist dies ein sehr spannender und lehrreicher Roman.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 01/2003)


Greg Bear: "Das Darwin-Virus"
Spektrum - Akademischer Verlag, 2001. 564 Seiten.
ISBN 3-8274-1089-4.

ca. EUR 24,95.
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