Moritz Baßler: "Der deutsche Pop-Roman"
Die neuen Archivisten
Was unterscheidet ein "vollgeschwalltes Stück
Papier" von einem
literarischen Text? Diese Frage beantwortete der Schriftsteller Matthias Politycki
in seiner 1997 im "Schreibheft Nr. 50" erschienenen Polemik "Kalbfleisch
mit Reis". Nichts als vollgeschwalltes Papier waren für Politycki die Erzeugnisse
der sogenannten Pop-Literaten; von literarischen Texten hingegen seien E-Aspekte
zu erwarten, ein sogenannter Schriftstelleransatz müsse bei der Produktion von
Literatur schon vorhanden sein. Dieser hingegen wurde jungen Autoren wie Benjamin
von Stuckrad-Barre,
Christian Kracht, Andreas Neumeister und anderen nicht nur
von Politycki, sondern auch von anderen Literaten und Feuilletonisten häufig
abgesprochen. Verhalten sich folglich die genannten Autoren zu den vom Bildungsbürgertum
kanonisierten Schriftstellern wie Robbie Williams oder "Oasis"
zu
klassischen Komponisten?
Moritz Baßler, Assistent am Lehrstuhl für Neueste deutsche Literatur in
Rostock, ist nun der Frage nach dem literarischen Wert der sogenannten Pop-Literatur
nachgegangen. Der Untertitel seines Buches verweist bereits auf den zentralen
Befund: Pop-Literatur zeichnet sich vor allem durch ihre Archivierungsleistung
aus. Was Baßler damit meint, wird bereits im ersten Kapitel des Buches deutlich,
in dem mehrere Romane über die Kindheit miteinander verglichen werden. Quintessenz
dieser vergleichenden Betrachtung: Andreas Mands Kindheitsromane "Grovers
Erfindung" und "Grover am See" aus den Jahren 1990 und 1992 waren
zumindest in Baßlers persönlicher Lesebiografie der Beginn einer neuen Art von
Literatur im deutschen Sprachraum.
Die Schilderung typischer Kindheitssituationen in den 1970er-Jahren und die
Auflistung von Gegenständen und Markenartikeln, die für den kindlichen Helden
mit emotionaler Bedeutung aufgeladen waren, schufen dabei - so die These - ein Archiv "Kindheit in den 70ern",
das von Angehörigen derselben Generation sehr gut nachzuprüfen sei. Der große
Publikumserfolg der Pop-Literatur - ein Begriff übrigens, den Baßler wie die
damit bezeichneten Autoren eher ungern verwenden - ist somit auf das
Aha-Erlebnis beim Überprüfen des jeweiligen Archivs zurückzuführen, auf das
Gefühl also, dass das alles genau so war oder ist wie im jeweiligen Roman
ausgeführt.
Ein Beispiel ist etwa „"Faserland", Christian Krachts historischer
Roman aus dem Jahr 1995, wie Baßler fast euphorisch schreibt. "Barbour"-Jacken,
"Doc Martens", Sylt, verschiedene angesagte Discotheken in ganz Deutschland und noch einiges
mehr sind hier die Elemente eines Archivs, das man "junger
Mann aus der High-Society im Deutschland der frühen 90er" betiteln
könnte. Archivqualitäten besitzt auch Benjamin von Stuckrad-Barres Roman "Soloalbum"
mit seiner Auflistung von Popsongs, Partysituationen, Medienschnickschnack und
dem Anfang der 90er-Jahre damit verbundenen konnotativen Bedeutungsgeflecht.
Das Schaffen von
Max Goldt und seiner Zwei-Mann-Band
"Foyer des Arts"
gehört für Baßler ebenfalls hierher, ist doch Max Goldt derjenige, der immer
wieder für seine "Alltagsbeobachtungen" gelobt worden ist. Auch wenn
der Begriff "Alltagsbeobachtungen" für Goldts Texte eine zu banale
Bezeichnung ist, da Wortwitz und Assoziationskunst des Autors unbeachtet bleiben,
so verweist er doch auf die Gemeinsamkeit mit den anderen Pop-Literaten: Die
Archivierung der erlebten Wirklichkeit; wie im Bereich der bildenden Kunst in
der Pop-Art werden bei Goldt in der Literatur Cornflakes-Packungen,
"Knusperdosen" und Haltbarkeitsdaten zum Gegenstand künstlerischen Interesses.
Der entscheidende Unterschied der Pop-Literatur zur herkömmlichen Literatur
besteht für Baßler darin, dass die Autoren der "klassischen" oder
"E-Literatur" ihre Inhalte in Begriffen zu transportieren versuchen,
die möglichst nicht vom diskursiven Geplapper der Zeitgenossen geprägt sind,
was den weitgehenden Verzicht auf die Archivierung von Markennamen, Popmusiktiteln,
Fernsehsendungen und Ähnlichem bedeutet. Für Pop-Literatur sind gerade die letztgenannten
Dinge entscheidend. Dabei nimmt Baßler die Pop-Literatur gegen die "E-Literatur"
in Schutz und zeigt an einigen Beispielen die allzu strenge Bodenständigkeit,
Manieriertheit und manchmal gar Verklemmtheit der etablierten Literaten auf,
die sich in dem krampfhaften Bemühen, ein zeitloses Kunstwerk zu schaffen, oft
selbst im Wege stehen (als Beispiele dienen etwa "Das Provisorium"
von Wolfgang Hilbig und
"Der Fuchs war damals schon der Jäger" von
Herta Müller). Wie man sogar die recht hausbackene Gattung
"Detektivroman" mit
popliterarischer Archivbildung aufwerten kann, legt Baßler anhand der
Romane
von Wolf Haas dar.
Plot - in Form der Ermittlungen des Detektivs und Diskurs durch
den Aufruf lebensweltlicher Details stehen hier gleichberechtigt nebeneinander.
Das ist in der Pop-Literatur nicht immer so; wie ein dribbelstarker Fußballer
bei seinen Kunststückchen bisweilen vergisst, den Ball mitzuführen, so berauschen
sich die neuen Archivisten mitunter an der Anhäufung von bunten Gegenständen
und den dazugehörigen Werturteilen, wobei die Handlung des Romans nur noch als
Alibi dient (bestes Beispiel: Stuckrad-Barres "Soloalbum") - ein Punkt, der von Baßler nur sehr
zaghaft kritisiert wird.
Überhaupt macht der Verfasser des Buches zum deutschen Pop-Roman kein
Hehl daraus, dass er ein begeisterter Anhänger dieser Art von Literatur ist.
"Zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg ist die deutsche Literatur heute
besser als die deutsche Fußball-Nationalmannschaft", heißt es gleich im
ersten Satz der stilistisch selbst recht poppig daherkommenden Studie.
Insgesamt handelt es sich um ein sehr unterhaltsames Buch mit gleichwohl
wissenschaftlichem Anspruch, das nicht nur für Germanisten und andere Philologen
von Interesse ist. Wer schon immer der Meinung war, die sogenannte Pop-Literatur
sei mehr als nur "vollgeschwalltes Papier", findet eine Reihe von
Argumenten, um grantelnden Verteidigern eines herkömmlichen Literaturkanons
entgegenzutreten. Darüberhinaus erhält man im Verlauf der Lektüre einen popliterarischen
Kanon von Büchern, die es wert sind, gelesen zu werden, wenn man die von Baßler
aufgezeigten Prämissen von Pop-Literatur akzeptiert.
Die Gegner dieser Art von literarischen Erzeugnissen wird aber auch Baßler
kaum überzeugen, und er selbst weiß ja auch den Grund: Die "E-Literatur"
beharrt darauf, selbst die Hoheit über die Begriffe zu besitzen, und von diesem
ewigen Anspruch wird sie sich auch von "Schnöseln" wie Kracht, Haas,
Stuckrad-Barre oder Baßler nicht abbringen lassen.
(Mark Brüggemann; 07/2002)
Moritz Baßler: "Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten"
C.H. Beck, 2002. 190 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:
Moritz Baßler (Hrsg.): "Literarische Moderne. Das große Lesebuch"
Wie keine andere Epoche steht die Moderne für den
Bruch mit Traditionen: Umgangssprache und Großstadt ziehen plötzlich in die
Kunstwelten des 19. Jahrhunderts ein; man entdeckt die Ästhetik des Hässlichen
und spielt mit Unsinn und Kontingenz. Dieses Lesebuch versammelt die kanonischen
und vergessenen Texte dieser faszinierenden Epoche und führt vor Augen, wie
riskant, wie verstörend, wie herrlich unverständlich moderne Texte auch heute
noch sind.
Mit Texten von Gottfried
Benn,
Hugo von Hofmannsthal,
Franz Kafka und
Anderen. (Fischer)
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Weitere Buchtipps:
Benjamin
von Stuckrad-Barre: "Panikherz"
Er wollte genau da rein: zu den Helden, in die rauschhaften Nächte - dahin,
wo die Musik spielt. Erst hinter und dann auf die Bühne. Unglaublich schnell kam
er an, stürzte sich hinein und ging darin fast verloren. Udo Lindenbergs
rebellische Märchenlieder prägten und verführten ihn, doch Udo selbst wird
Freund und später Retter.
Benjamin von Stuckrad-Barre erzählt eine Geschichte, wie man sie sich nicht
ausdenken kann: Er wollte den Rockstar-Taumel und das Rockstar-Leben, bekam
beides und folgerichtig auch den Rockstar-Absturz. Früher Ruhm,
Realitätsverlust, Drogenabhängigkeit. Und nun eine Selbstfindung am dafür
unwahrscheinlichsten Ort - im mythenumrankten "Chateau Marmont" in Hollywood, in
das ihn Udo führte. Was als Rückzug und Klausur geplant war, erweist sich als
Rückkehr ins Schreiben und in ein Leben als Roman. Drumherum tobt der Rausch,
der Erzähler bleibt diesmal nüchtern. Schreibend erinnert er sich an seine
Träume und Helden - und trifft viele von ihnen wieder. Mit Bret Easton Ellis
inspiziert er einen Duschvorhang, er begegnet Westernhagen beim Arzt und
Courtney Love in der Raucherecke und geht mit Thomas Gottschalk zum Konzert von
Brian Wilson. Andere sind tot und werden doch gegenwärtig, Kurt Cobain, Helmut
Dietl.
Stuckrad-Barre erzählt mit seiner eigenen Geschichte zugleich die Geschichte der Popkultur. "Panikherz" ist eine Reise in die Nacht, eine Suche nach
Wahrheit, eine Rückkehr aus dem Nebel. (Kiepenheuer & Witsch)
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Markus Tillmann: "Populäre Musik und
Pop-Literatur. Zur Intermedialität literarischer und musikalischer
Produktionsästhetik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur"
Populäre Musik ist direkt und stetig präsent. Es verwundert daher nicht, dass
sie seit den 1960er-Jahren nicht nur den Habitus des zeitgenössischen Menschen
bestimmt, sondern auch den Schreibstil einer Reihe von Gegenwartsautoren
beeinflusst hat. In den literarischen Texten von Jack Kerouac, Rolf Dieter
Brinkmann, Rainald Goetz und Thomas Meinecke fungiert populäre Musik
beispielsweise ganz explizit als Medium der Textkonstitution. Markus Tillmann
verfolgt die dabei aufscheinenden intermedialen Zusammenhänge zwischen
musikalischer und literarischer Produktionsästhetik von den Beat Poets
über die Punk- und Industrial-Szene bis hin zur DJ Culture. (transcript)
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Immanuel Nover: "Referenzbegehren.
Sprache und Gewalt bei Bret Easton Ellis und Christian Kracht"
In der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts werden auf vielfältige Weise
neue Verfahren zur Erzeugung von Präsenz und Referenz erprobt. Die vorliegende
Studie untersucht diese insbesondere in Texten von Christian Kracht und Bret
Easton Ellis. Beide Autoren nehmen zum Einen alternative sprachliche Verfahren
in den Blick, die nicht auf dem mittelbaren Repräsentationsverfahren der
sprachlichen Zeichen beruhen. Zum Anderen gewinnen nicht-hermeneutisch lesbare
Präsenzeffekte, wie sie etwa durch die Gewalt vermittelt und erzeugt werden
können, für die Literatur um 2000 an Bedeutung. Dies äußert sich unter Anderem
in einem verstärkten Interesse an Themenkomplexen, die mit
Gewalt,
Körper oder
Blut in Verbindung stehen. (Böhlau)
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