Pat Barker: "Das Gegenbild"
Die Zukunft der Vergangenheit
Pat Barkers verstörendes Familienporträt "Das Gegenbild"
"Vergesst nicht: Die Vergangenheit findet keinen
Platz in der Erinnerung, wenn nicht etwas von ihr übrig bleibt; sie braucht eine
Zukunft." (Joseph Brodsky)
Ein verhaltensgestörter Sohn, der kleinere Kinder misshandelt,
und eine verschlossene pubertierende Tochter aus früheren Beziehungen, ein gemeinsames
Kind im Windelalter
und ein Baby auf dem Weg, ein qualvoll an Krebs sterbender Großvater - die Familie
von Nick und Fran ist trotz aller Bemühungen weit von jedem harmonischen Idealbild
entfernt. Der Umzug in ein großes spätviktorianisches Haus am Stadtrand von
Newcastle verspricht ein wenig Erleichterung in den anstrengenden Alltag zu
bringen, doch als im neuen Heim hinter einer alten Tapete ein obszönes
Familienporträt zum Vorschein kommt, beginnt sich etwas Bedrohliches in ihr
Leben einzuschleichen.
Nachforschungen über die abgebildeten
früheren Besitzer der Villa enthüllen mit einer ähnlichen Familienkonstellation
und einem grausamen Kindesmord erschreckende Parallelen zur angespannten Situation
der neuen Bewohner. Statt aber, wie zu erwarten wäre, nun die Lösung der Rätsel
der Vergangenheit und die daraus resultierende Katharsis in der Gegenwart zu präsentieren,
konzentriert sich Pat Barker danach auf das langsame Sterben von Nicks Großvater
Geordie und dessen Erinnerungen an die traumatischen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs.
Hilflos muss Nick zusehen, wie der alte Mann immer wieder den Bezug zur Realität
verliert und nochmals den Horror in den Schützengräben Frankreichs und den Verlust
seines Bruders durchlebt. Doch auch hier bietet die britische Autorin keine eindeutigen
Antworten auf offene Fragen. Hat Geordie aus Eifersucht seinen Bruder auf dem
Schlachtfeld getötet, hat er den schwerst Verwundeten aus Mitleid von seinem
Leiden erlöst oder gaukeln ihm die Schuldgefühle des Überlebenden Dinge vor, die
er so gar nicht erlebt hat?
Wie trügerisch Erinnerungen sein
können, ist schon Nicks dreizehnjähriger Tochter Miranda bewusst: "Sie setzte
sich und blickte auf Dad und Fran zurück. Wie weit entfernt sie waren und wie
winzig, als betrachtete sie sie durch ein verkehrt herum gehaltenes Fernrohr.
Eines Tages, dachte sie, würde sie sich daran erinnern, wie sie sie jetzt da sah.
Wenn sie alt war, würde sie an einem Regentag daran zurückdenken und sich sagen,
wie glücklich sie an diesem Tag gewesen sei, weil sie jung war, die Sonne schien
und Dad noch lebte. Und nichts davon würde stimmen."
Die Unsicherheit und die Selbsttäuschung, die jede Erinnerung
begleiten, und die Heftigkeit, mit der sich Vergangenes manchmal in die Gegenwart
drängt, lassen die Protagonisten - und den Leser - verstört zurück. "Nehmen
wir einmal an, dass die Zeit sich tatsächlich verlangsamen kann. Nehmen wir
einmal an, sie ist kein Fluss,
sondern etwas viel Zähflüssigeres und Unvorhersagbareres wie Blut zum Beispiel.
Nehmen wir einmal an, sie gerinnt um schreckliche Ereignisse, bildet dort
Klumpen, fließt nicht mehr. (...) wenn es wahr wäre, wäre es eine weit
schrecklichere Wahrheit als alles, was das Verfließen der Zeit anrichten kann.
Genesung, Rehabilitation, Regeneration, Erlösung, Auferstehung, das Gedenken
selbst, all das wäre sinnentleert, weil all das vom stetigen Fließen des Stroms
abhängt."
Barkers
unbarmherzige und zugleich berührende Beobachtungsgabe, die Schaffung einprägsamer
Charaktere und die treffende Bildsprache, die schon in ihrer gefeierten Trilogie
("Niemandsland", "Das Auge an der Tür", "Die Straße der Geister") über den Ersten
Weltkrieg faszinierten, zeichnen auch "Das Gegenbild" aus. Die nervenaufreibende
Einkaufstour einer mit einem Kleinkind und einem unwilligen Halbwüchsigen überforderten
Mutter wird in einer einfachen, modernen Sprache ebenso präzise geschildert wie
emotionale Ausnahmesituationen und die erschreckende Banalität, die das Sterben
eines Menschen begleiten kann. Trotz aller Klarheit des Ausdrucks werden die vielschichtigen
Zeit- und Handlungsebenen des Buches nicht immer befriedigend verbunden, vieles
bleibt vage und hinterlässt vielleicht gerade dadurch einen um so tieferen Eindruck.
Pat Barker spielt mit den Erwartungen des Publikums, denn: "Nur zu leicht lässt
man sich von falschen Analogien blenden - die Vergangenheit droht nie mit etwas
so Einfachem oder so Vermeidbarem wie der Wiederholung."
(sb)
Pat
Barker: "Das Gegenbild"
dtv premium, 2001. 256 Seiten.
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Ein weiteres Buch der Autorin:
"Tobys Zimmer"
Was macht der Krieg mit der Kunst - und die Kunst mit dem Krieg?
Elinor und Toby sind Schwester und Bruder, Freunde und engste Vertraute. Im
Jahrhundertsommer 1912 verbringen sie eine Nacht gemeinsam in Tobys Zimmer. Ihr
Geheimnis nimmt Elinor später mit an die Slade School of Fine Art
in
London, wo sie Kunst studiert, während Toby im Royal Army Medical Corps
in den Schützengräben Frankreichs dient.
1917 wird Toby als "Vermisst, vermutlich gefallen" gemeldet. Elinor stürzt in
tiefe Trauer. Sie schließt sich als Assistentin dem Künstler und Chirurgen Henry
Tonks an und beginnt, für ihn die zerstörten Gesichter von
Soldaten zeichnerisch
zu dokumentieren. In Tonks' Umfeld erwartet sie Aufschluss über Tobys Tod.
"Sie verbrachte alle Tagstunden damit, in der Scheune auf der anderen
Hofseite zu malen, zog sich in der Abenddämmerung ins Haus zurück und vergaß
häufig zu essen. Nachts schlief sie in Tobys Zimmer. Das
Malen betäubte den
Schmerz, nichts sonst." (Dörlemann)
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