Margaret Atwood: "Oryx und Crake"
Die Welt, in der Schneemensch (im Engl.
Snowman), der "Held" des Buches, lebt, ist eine aus den Fugen geratene, ein
riesiges unkontrollierbares Experiment; entsprungen aus dem Größenwahn von
Gentechnikern, verheert durch Naturkatastrophen, verseucht durch eine Pandemie.
Der Meeresspiegel liegt weit höher als in unseren Tagen; die Sonne heizt
gnadenlos auf die Erde herab, richtet ihre Strahlen ungefiltert auf alles Leben.
Folgen des Treibhauseffekts? Ausdünnung der Ozonschicht? Autorin Margaret Atwood
gibt darauf keine Antwort, überlässt das Zustandekommen der Postapokalypse den
düsteren Ahnungen des Lesers.
Die amerikanische Ostküste, wie wir sie kennen, ist im Roman versunkene Vergangenheit.
Eine gewaltige Tsunami, ausgelöst durch einen explodierenden Vulkan auf den
Kanarischen Inseln, spülte die alten Stätten hinweg. Harvard ist nur mehr eine
Unterwasserruine. Nahe dem, was einst New York City war, wuchert später ein
riesiger Moloch, New-New York, so genanntes Plebsland; voll von Gewalt, Schmutz
und Krankheit. Aber selbst das währte nur solange, bis eine galoppierende Epidemie
die Bewohner dahinraffte, sie aus allen ihren Poren blutend niederstreckte.
Schneemensch hat dieses Chaos überstanden, schlägt sich irgendwo entlang der
neuen Küste durch; an einer Lagune aus Schrott, in der angespülte Fahrzeugwracks
als Wellenbrecher vor dem Toben des Atlantiks gerade mal dürftig Schutz bieten.
Ein dahinmodernder Autoreifen ist sein Komfortsessel, fleckige Tücher umhüllen
ihn notdürftig, ein Baum bleibt seine einzige Rückzugsmöglichkeit vor herumstreunenden
Hunölfen (engl. Wolverogs) und Organschweinen (Pigoons), gentechnisch kreierten
Hybridwesen, die es irgendwie geschafft hatten, aus den Laboratorien ihrer menschlichen
Peiniger zu entfliehen. Nun machen sie - überraschend schnell an die neue "Natur"
angepasst - in Rudeln oder Rotten Jagd auf alles Essbare.
Schneemensch
muss nicht ganz ohne Gesellschaft auskommen, die Crakers leben mit ihm - oder
besser gesagt - um ihn. Diese grünäugigen, nackten "Menschen" sind frei von
Erbkrankheiten, zeigen keinerlei Altersbeschwerden, vertragen selbst die pralle
UV-Strahlung ohne an Krebs zu erkranken. Aggression, Eifersucht, Streit, all das
ist ihnen fremd. Sie kennen weder Rassismus noch Sexismus. Unterschiede in der
Hautfarbe nehmen sie untereinander nicht mal wahr, Frauen und Männer sind
gleichberechtigt. Wenn Paarungszeit ist, schwellen die Sexualorgane beider
Geschlechter zum Signal in einem Blauton an. Dann begatten je fünf Männer eine
Frau - ohne irgendwelche Konkurrenzkämpfe. Crakers leben rein vegan,
hauptsächlich von Gras und Beeren. Im Alter von 30 Jahren fallen sie tot um,
ohne vorher gelitten zu haben. Ihre biologische Uhr ist einfach so programmiert.
Entstanden sind diese "perfekten" Wesen durch das "Paradice Projekt" - ihr
"Vater" war Crake, ihre Lehrmutter Oryx.
Schneemann, der früher Jimmy hieß, kannte Oryx und Crake wie kein Anderer. In
gedanklichen Rückblicken führt er den Leser in die nahe Vergangenheit - jene
Zeit vor der großen Seuche. Crake war Schneemanns bester Schulfreund. Gemeinsam
aßen sie SoyOBoy Burgers aus novel food Soja, kifften Marihuana zu
Sexfilmen, sahen sie sich am Bildschirm Live-Hinrichtungen an oder maßen sich
an Videogames á la "Kwiktime Osama" und "Barbarian Stomp", in denen der Sieg
von möglichst hohen Zahlen virtueller Toter abhing. Eines Tages, auf der Kinderpornografie-Website
"HottTotts", erblickten beide zum ersten Mal das Gesicht von Oryx, einer engelhaften
Asiatin, damals vielleicht acht Jahre alt. Mit einem Ausdruck des Lächelns und
Verzeihens befriedigte sie die absonderlichsten Wünsche ihrer Freier. Später
wurde sie nach San Francisco verkauft. Dort sollte ihr Lebensweg jenen von Crake
kreuzen. Dieser studierte mittlerweile am Eliteinstitut Watson-Crick -
Biotechnologie
natürlich! Jimmy hatte es nicht soweit gebracht, er musste sich mit der weniger
prestigereichen Martha-Graham-Uni zufrieden geben und auf Jobangebote warten.
Universitäten im herkömmlichen Sinn gibt es
in Atwoods Zukunftsroman freilich längst nicht mehr. Die Lehrstätten gleichen
hermetisch abgeriegelten Komplexen mit eigenen Einkaufszentren, Spitälern und
Wohnanlagen. Gesponsert wird das Ganze von Großkonzernen wie RejoovenEsense, die
ihre Milliarden damit verdienen, nichtalternde Haut zu züchten oder Organe am
"lebenden Ersatzteillager" Schwein wachsen zu lassen. Diese Firmen wecken
Hoffnung und kassieren ab. Streng geheim entwickeln sie neue Krankheiten, um
kurz darauf Impfung oder Therapie zu vermarkten. Zwischen den Konzernen herrscht
ein Klima von Spionage und Terror. Immer wieder werden Anschläge mit Biowaffen
verübt oder Wissenschafter im Säurebad aufgelöst. Deshalb sind die
Forschungskomplexe mit Wachtürmen, Stacheldraht und Bewegungsmeldern versehen.
Das CorpSeCorps, eine Privatpolizei, liquidiert Eindringlinge - aber auch
Flüchtige - gnadenlos. Jimmys Mutter war eine dieser Abtrünnigen, moralische
Bedenken hatten sie zur Flucht verleitet. Wurde sie gefasst, gefoltert, getötet?
Oder gelang es ihr, irgendwo in der Masse der Plebsländer unterzutauchen?
Schneemann stellt sich diese Frage bis ans Ende des Buches; eine Frage, die
gleichbedeutend mit einer Metafrage ist, nämlich: "Gibt es noch
Hoffnung?".
Alle Hoffnung erfüllt sich für Jimmy, als ihn Crake zu sich
in die exklusivste aller Forschungskuppeln einlädt, dort, wo er längst an den
Crakern herumexperimentiert. Mitten in diesem Zentrum des gentechnischen
Wahnsinns trifft Jimmy auf Oryx. Sofort erkennt er sie als das
anmutig-gleichmütige Mädchen aus "HottTotts" wieder. Die beiden werden ein Paar.
Oryx beschenkt ihn - mit ihren Gefühlen und ihrem Körper. Allerdings bleibt sie
undurchschaubar, wirkt trotz aller Nähe weit entfernt. Für Crake, mit dem sie
aus Geschäftsgründen parallel eine Affäre hat, bereist sie die Welt. In allen
großen Plebsstädten sorgt Oryx dafür, dass eine neue Wunderpille, "BlyssPluss",
unter die Bewohner kommt. Doch weder sie noch Jimmy wissen von Crakes tödlichem
Plan. Die Pille ist mit einem Ebola ähnlichen Virus infiziert, das so rasch zum
Tode führt, dass keine Möglichkeit mehr besteht, rechtzeitig ein Gegenmittel zu
entwickeln. Oryx hat Pandoras Büchse geöffnet, Crake den Countdown zur
Apokalypse eingeleitet. Ohne Reue, denn für ihn sind Liebe und Mitgefühl nur
hinderliche Relikte des "Primatenhirns", und Gott ist bloß ein
"Neuronencluster". Crake will den Untergang der Menschheit und einen Neubeginn
mit seiner Schöpfung, den Crakern. Welle um Welle breitet sich die Pandemie mit
dem Kürzel "JUVE" aus, rafft Menschenleben zu Milliarden dahin.
In der abgeschirmten Forschungskuppel spitzt es sich zu zwischen Oryx, Crake
und Jimmy, der als Einziger der Drei überlebt. Mit den Crakers verlässt er den
Biotech-Compound, zieht an die Küste - als ein neuer Adam
und Moses zugleich. Unter den gentechnisch geschaffenen "Paradieskindern" nimmt
ein Kult seinen Anfang. Sie verehren Oryx und Crake als eine Art göttliche Beschützer,
Schneemensch fungiert nolens volens als Oberpriester. Er "wäre legendär,
wenn es noch jemanden gäbe, der Legenden weitererzählen könnte", schreibt
Atwood. Ist Jimmy tatsächlich der letzte Mensch in diesem morbiden Utopia? Oder
gibt es da noch andere Nichtperfekte? Erneut eine Frage innerhalb der ständig
präsenten Frage nach der Hoffnung.
Margaret Atwoods "Oryx und
Crake" nimmt erzählerisch etwas schleppend seinen Anfang. Der Stil ist
kompliziert und es benötigt seine Zeit, ehe der Leser sich auf Wortspiele aus
dem Biotech-Jargon und die drückende Atmosphäre einzustellen vermag. Aber je
mehr die Handlung sich entfaltet, desto aufschlussreicher respektive intensiver
wird sie. Wie schon in ihrem anderen düsteren Roman, "Der Report der
Magd", der in einem amerikanischen Gottesstaat angesiedelt ist, und in
dem junge Frauen wortwörtlich als "Gebärmütter" missbraucht werden, warnt Atwood
vor möglichen Zukunftsszenarien, die dann eintreten könnten, wenn Mitgefühl,
Demut und Vernunft als Gesellschaftskorrektiv versagen. "Oryx und
Crake" ist keine fantasiereiche Science-Fiction, das Buch wurzelt vielmehr
in gefährlichen Entwicklungen, die bereits jetzt ablaufen, vor unseren Augen
(Umweltzerstörung) oder hinter verschlossenen Türen (Gentech-Experimente). Doch
nicht die Wissenschaft an sich ist schlecht, nein, sie bleibt wertneutral. Das,
was wir mit ihr machen, bestimmt den Wert. Margaret Atwood: "Nicht Bomben
zerstören Städte, sondern der Hass".
"Oryx" und "Crake" sind Synonyme - Namen für Tiere wie die Oryx-Antilope oder
die Ralle, beides Spezies, die zum Zeitpunkt der Handlung - als Opfer des "Extinctathon"
(in Anlehnung an ein weiteres Videospiel im Roman) - bereits ausgestorben sind.
Die natürliche Vielfalt musste einer Designernatur weichen, bewohnt von Hunölfen
oder Organschweinen. Sowohl das
Artensterben
wie die Kreation von Gentech-Hybriden sind bereits traurige Realität. Ebenso
gespenstisch aktuell, fast auf das Erscheinungsdatum des Buches abgestimmt,
bleibt Margaret Atwoods Vision von einer globalen Seuche. Denn nur kurz nachdem
"Oryx und Crake" an die Buchläden ausgeliefert worden war, tauchte
mit SARS eine bisher unbekannte Epidemie auf; ausgehend von Südostasien (Oryx’
Heimat), übergreifend bis nach Kanada (Atwoods Geburtsland). Die Realität schien
die Fiktion eingeholt zu haben.
Selbst das Katastrophenszenario der riesigen Flutwelle, nach deren
Niedergang die geografische Landkarte Nordamerikas neu gezeichnet werden müsste,
basiert auf wissenschaftlichen Möglichkeiten. Simon Day vom University College
London vertritt die Ansicht, dass eine Explosion der Westflanke des Vulkans
Cumbre Vieja (auf der Kanareninsel La Palma) 500 Milliarden Tonnen Fels mit 500
km/h in den Ozean schleudern würde. Das hätte eine 650 Meter hohe Tsunami zur
Folge, die mit 700 Stundenkilometern über den Atlantik Richtung USA rast. An der
amerikanischen Ostküste würde die Welle immer noch eine Höhe von 50 Metern
aufweisen und bis zu 20 km landeinwärts alles überfluten; von New York im Norden
bis Miami im Süden. Es wäre die verheerendste Naturkatastrophe in der Geschichte
der Menschheit. Bleibt zu hoffen, dass Margaret Atwood mit diesem worst
case gründlich falsch liegt.
"Oryx und Crake" hat ohne
jeden Zweifel das Potenzial zu einem Klassiker der Weltliteratur. Der Roman
setzt dort fort, wo Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" endete, in einer
entseelten Gesellschaft, die der Gentechnik die beherrschende Rolle zumisst, wo
Lebewesen aus Retorten und vom Fließband stammen. Was Margaret Atwood durch
Schneemensch zum Ausdruck bringt, ist ebenso beklemmend, es stimmt depressiv,
weckt aber auch Hoffnung und Kampfgeist. Denn eines konnte Crake trotz seines
perversen Genies nicht aus dem menschlichen Erbgut eliminieren: einerseits den
Drang zu singen und andererseits die Fähigkeit zu träumen ... die Hoffnung lebt!
(lostlobo; 06/2004)
Margaret Atwood: "Oryx und
Crake"
(Originaltitel "Oryx and Crake")
Übersetzt von Barbara
Lüdemann.
Berlin Verlag.
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