Russell Artus: "Unperson"

Wir liefern uns dem aus, was wir lieben, oder dem, was wir fürchten. Aber liefern wir uns nicht vor allem der Alltäglichkeit aus? Der abstumpfenden Routine?


Joris Roozen ist zwanzig Jahre alt und nicht unbeteiligt am Selbstmord seiner Schwester Maud. Sein Leben hat jeden Sinn verloren, durch einen Bekannten findet er Zugang zu einer Therapiegruppe, deren Guru als höchste Weltanschauung den Sieg über die Lebenslust und das Erreichen der Unpersönlichkeit predigt. Unpersönlichkeit sei gleichbedeutend mit dem Fehlen eines eigenen Willens. Willenlosigkeit wiederum bedeute dasselbe wie völlige Gleichgültigkeit, wie ein Schulterzucken, wie der mentale Abschied vom Leben. Der körperliche Abschied folge dann meistens ganz von selbst, erklärt der selbsternannte Therapeut dieser Gruppe. Die Teilnehmer beschäftigen sich unter seiner Anleitung mit dem mentalen Abschied. Sie bereiten sich quasi auf den entscheidenden Schritt vor, den jeder von ihnen früher oder später tun sollte. Das Ende der geglückten Therapie würde jedenfalls der Selbstmord sein. Der Guru hält die Teilnehmer der Gruppe zu den unterschiedlichsten Übungen an, die allesamt dazu beitragen sollen, Unpersönlichkeit und Gleichgültigkeit als höchstes Ziel zu erreichen. Diese Übungen sind einerseits für die Gruppenmitglieder erniedrigend und gefährlich, andererseits stellen sie auch große Gefahr für völlig Unbeteiligte dar. So soll Joris Hauptübung um den Tod seiner Schwester zu verkraften darin bestehen, einem Mädchen Liebe vorzuspielen und es anschließend in den Tod zu treiben.

Dieser vom Guru der Gruppe entwickelte Plan wird von Joris rasch in die Tat umgesetzt. In einer Tanzschule lernt er die 16-jährige Liedewij kennen und nach nicht einmal einem Jahr ist das Mädchen tot und hinterlässt eine Familie, die die Motive des Selbstmordes ihrer Tochter bzw. Schwester nicht begreifen können, zumal der Abschiedsbrief lediglich eine Zeile enthält "Weil du es nicht getan hast, tue ich es".

Sowohl Liedewijs Schwester Evelien als auch Joris glauben die Wahrheit zu kennen und beschreiben das Mädchen, die Veränderungen und die Vermutungen, die sie im Hinblick auf ihren Tod haben. Doch der wahre Grund bleibt verborgen und Evelien muss erkennen, dass letztendlich das Leben Liedewij enttäuscht haben muss, auch wenn sie keinen blassen Schimmer hat warum.

Der erste Teil des Buches schildert das Leben Liedewijs aus der Sicht ihrer Schwester. Der Leser lernt ein fröhliches, lebensbejahendes Mädchen kennen, welches bereits mit 16 Jahren konkrete Karrierepläne verfolgt, Tierärztin werden möchte, in einem Tierheim den Großteil ihrer Freizeit ehrenamtlich arbeitet. Sie erscheint vernünftig, ganz im Gegensatz zu Evelien, die immer wieder ihre Grenzen austestet, völlig verrückte Aktionen startet und mit dem Leben spielt, ihre Familie in Angst und Schrecken versetzt. Liedewij ist das Gegenteil, ruhig und besonnen, aber auch eine Außenseiterin in der Schule, keine wirklich guten oder besten Freundinnen, niemand dem sie sich zu 100 Prozent anvertrauen will oder kann, möglicherweise dadurch ein leichtes Opfer für Joris und sein Spiel.

Der zweite Teil des Buches aus der Sicht von Joris ist ein gut aufgebauter Plan, der immer wieder kurzfristig abgeändert wird ohne aber das Endziel, den Tod des Mädchens, aus den Augen zu verlieren. Auch die Beziehung zu seiner Schwester wird dem Leser nahegebracht. Diese Beziehung, die eine Liebesbeziehung unter falschen Voraussetzungen war und letztendlich mit dem tragischen Tod von Maud endet, hätte jedenfalls verhindert werden können. Joris erfährt durch einen Zufall, dass Maud eine Adoptivtochter seiner Eltern ist, die das Mädchen davon aber nie in Kenntnis gesetzt haben, diese Situation nützt er schamlos aus um eine intime Beziehung mit Maud aufrecht zu erhalten und die Eltern zu erpressen, indem er ihnen droht, bei Einmischung Maud alles zu erzählen.

In der regelmäßigen Therapie wird immer wieder am Plan für den Tod Liedewijs gefeilt, Joris ermutigt, geradezu unter Druck gesetzt die Phantasie in Taten umzusetzen. In manchen Passagen hofft der Leser auf eine Wende, wünscht nichts sehnlicher, als dass sich Joris von der Gruppe und dem Therapeuten abwendet, seine Pläne fallen lässt. Doch die Geschichte, die wie eine Liebesbeziehung beginnt, man fühlt sich unwillkürlich zurückversetzt in die Zeit der ersten Liebe, endet wie geplant. Joris setzt seine Freundin immer mehr unter Druck, verlangt von ihr unmögliche Dinge, es folgen Versöhnungen, doch letztendlich beendet er die Beziehung und ein Monat später ist sie tot.

Doch auch der Tod des Mädchens vermag keine Gefühlsregungen wie etwa Reue oder Einsicht zu erzeugen, vielmehr ein Gefühl von Macht und Triumph. Als Joris seinem Guru vom Tod Liedewijs berichtet, darf er quasi als Belohnung oder vielleicht besser gesagt als Vertrauensbeweis tiefer in die Hintergründe der Gruppe Einblick nehmen, was dem Leser einen Anflug von Grauen nicht erspart.

Der Roman von Russell Artus ist eine grauenvolle, unbegreifliche Geschichte über Manipulation und Betrug, über Hilflosigkeit und Gleichgültigkeit, Schuld und Ohnmacht. Vielleicht auch über Liebe aber vor allem über fehlende Liebe. Der Roman lässt die Verrohung unserer Gesellschaft spüren, die Jagd nach dem ultimativen Kick, die Orientierungslosigkeit und die große Gefahr, die in all diesen Dingen verborgen liegt, die Macht die sogenannte Gurus auf Menschen ausüben können, die jegliches Mitgefühl und Selbstachtung verloren haben. Der Roman hat mich abgestoßen und fasziniert zugleich und vor allem hat er mich hellhöriger gemacht, aufmerksamer und kritischer gegenüber den Gurus unserer Zeit aber auch gegenüber den Nöten, Ängsten und der Einsamkeit meiner Mitmenschen.

Der Autor, Russell Artus, wurde 1969 in Tilburg in den Niederlanden geboren, wo er auch heute lebt. Er hat in London studiert und bisher zwei Romane und einen Erzählband in den Niederlanden veröffentlicht. Mit diesem Roman ist ihm eine provozierende Geschichte gelungen, deren Explosivität jeden Leser nur fesseln kann.

(margarete; april 2002)


Russell Artus: "Unperson"
Roman. Aus dem Niederländischen vonThomas Hauth und Sylke Hachmeister.
Gebundene Ausgabe. Luchterhand, 2002.
ISBN 3-630-87120-8.
ca. EUR 25,-.
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