David Barnouw, Gerrold van der Stroom: "Wer verriet Anne Frank?"
Im
Jahr 2002 erschien die dritte und jüngste Theorie bezüglich des Verrats der
Versteckten in der Prinsengracht 263. Als Autorin fungiert die englische
Forscherin Carol Anne Lee, die zudem im Jahre 1998 die zweite Biografie über
Anne Frank veröffentlichte. David Barnouw und Gerrold van der Stroom beschäftigen
sich hauptsächlich mit der Thematik dieser dritten Theorie und versuchen
eventuelle Fehlerquellen zu belegen bzw. klare Erkenntnisse zu unterstreichen.
Das niederländische Staatliche Institut für
Kriegsdokumentation brachte im Jahre 1986 eine kritische Ausgabe von Die
Tagebücher der Anne Frank heraus. Das Thema des Verrats wurde in einem der
Einleitungskapitel behandelt. Es konnte nur geschlossen werden, dass sich über
die Identität des Verräters nichts sagen lasse. Seitdem sind zwei Bücher
erschienen, in denen neue Hypothesen zum Verrat präsentiert wurden. Zum Einen
die ausgezeichnete Biografie von Melissa Müller Das Mädchen Anne Frank und
zum Anderen ein weiteres Buch von Carole Ann Lee Het verborgen levewn
van Otto Frank. Die Untersuchung der Autoren Barnouw und van der Stroom
beschäftigt sich mit drei möglichen Verrätern.
Willem van der Maaren war viele Jahre lang
die einzige Person, die schwer verdächtigt wurde, die Versteckten in der
Prinsengracht 263 verraten zu haben. Er war in der Firma von Otto Frank, Opekta,
als Lagerarbeiter angestellt und wurde nach dem Verschwinden des Vaters von Anne
und Margot Frank de facto zum Geschäftsführer des Unternehmens. Es waren
einige Briefe und Zeugenaussagen im Umlauf, welche einen Verrat von van der
Maaren möglich scheinen ließen. Allerdings wurden nach mehreren, insgesamt bis
in die Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts dauernden Verhandlungen keine
weiteren juristischen Schritte mehr gegen den Verdächtigten unternommen, da es
keine stichhaltigen Beweise für den Verrat gab.
In der ersten seriösen Biografie Anne Franks
von Melissa Müller präsentiert die Autorin eine Verdächtigte namens Lena
Hartog-van Bladeren. Sie war Ehefrau von Lammert Hartog; einem weiteren
Lagerarbeiter bei Opekta. Müller schreibt u.a. "Sicher ist, dass
Lammert Hartog seiner Frau Lena von den versteckten Juden erzählte." Müller
vermutet, dass sich die Frau von Lammert um die Sicherheit ihres Mannes besorgt
zeigte, weil er
von versteckten Juden wusste. Es ging seinerzeit auch hartnäckig
die Rede davon, dass eine weibliche Stimme für die Denunzierung verantwortlich
war. Lena Hartog-van Bladeren wurde jedoch nie eingehend polizeilich befragt und
konnte kein zweites Mal einvernommen werden, da sie am 10. Juni 1963 verstarb.
Diese beiden Verdächtigten spielen im Rahmen
der Untersuchung nur eine untergeordnete Rolle, da diesbezüglich bereits viel
Staub aufgewirbelt worden ist. Ob eine der beiden verdächtigen Personen tatsächlich
für den Verrat verantwortlich zeichnete, ist in keiner Weise nachzuweisen.
Nunmehr geht es verstärkt um die dritte Theorie, die von Carol Anne Lee
beschrieben worden ist. Der dritte Verdächtigte war Anton Ahlers, der über den
ehemaligen Standbauer von Opekta namens Jansen mit Otto Frank in
Verbindung getreten ist. Ahlers trug am 18. April des Jahres 1941 einen Brief
bei sich, den Jansen an die Leitung der Nationaal-Socialistische Beweging
geschrieben hatte, und worin der Schreiber darum ersucht, dieser Brief solle an
die SS weitergeleitet werden. Ahlers ließ Otto Frank den Brief lesen. Frank
identifizierte eindeutig Jansens Handschrift. Ahlers soll den Brief abgefangen
haben, wobei bis dato nicht klar ist, wie dies geschehen sein soll. Aus
Dankbarkeit für Ahlers' Eingreifen gab Otto Frank dem Mann Geld. Der Brief
blieb nicht erhalten. Ahlers beließ ihn bei Frank, der ihn Kugler und Miep und
danach seinem Rechtsanwalt Dunselman zeigte. Dunselman machte sich ein paar
Notizen und vernichtete danach das Schreiben.
Aus diesem Geschehnis wird eine lang anhaltende Erpressung angenommen. Ahlers
soll über ungewöhnlich viel
Geld
verfügt haben, obzwar er keineswegs einer Beschäftigung nachging, welche diesen
Geldstrom rechtfertigte. Angeblich hörte das "reiche Leben" von Ahlers auf,
als Otto Frank im Jahre 1980 starb. Aus Notizen im Terminkalender von Otto Frank
und einigen Briefen sowie Aussagen von Mitgliedern der Familie Ahlers wird versucht,
den Nachweis zu erbringen, dass Ahlers den Verrat begangen haben kann. Der Sohn
von Ahlers sagte einmal, dass er dies seinem Vater ohne weiters zutraue und
er sogar damit "geprahlt" habe. Andererseits schließt dies die Gattin von Ahlers
aus. Otto Frank soll die
Wehrmacht
mit Waren seiner Firma versorgt haben (auch im Krieg), was Ahlers wusste. Daraus
hätte der Verdächtigte Otto Frank einen Strick drehen können. Es gilt jedoch
nicht einmal als erwiesen, ob sich Otto Frank mit Ahlers, als dieser für einige
Zeit im Gefängnis einsaß (aus anderen Gründen), überhaupt getroffen hat. Eher
wäre es möglich, mit Zusammenkünften mit Frau Ahlers zu rechnen. Klar ist nur,
dass es zu zwei Treffen zwischen Otto Frank und Ahlers gekommen sein muss.
Otto Frank soll Ahlers mit Rohstoffen für
dessen Firma beliefert haben. Es könnte sein, dass Ahlers durch seine Arbeit im
Büro des Verwalters Karel Wolters von den Methoden erfahren haben mag, mit
denen Otto Frank 1940 und 1941 die "Entjudung" seiner Firmen
juristisch verschleiern habe müssen. Dieses Konglomerat von Dingen, die
passiert sein könnten, führt letztlich dazu, dass Ahlers als dritter
Verdächtiger gilt. Doch klar ist in erster Linie, dass Ahlers nicht unbedingt
ein kluger Mensch war und dazu tendierte, stark zu übertreiben. Er wollte sich
größer machen, als er tatsächlich war, und so ist es gut möglich, dass es
nicht mehr als Prahlerei war, von seinem "Verrat" zu sprechen. Die
Autoren kommen zu dem Schluss, Ahlers wäre ebenso wenig der Verrat stichhaltig
nachzuweisen wie den anderen beiden Verdächtigten. Zwar gäbe es den einen oder
anderen möglichen Hinweis (insbesondere in Bezug auf die Erpressung), doch das
legt nicht den Schluss nahe, Ahlers wäre der Verräter gewesen.
Fazit ist, dass nach wie vor kein Verräter
der Versteckten in der Prinsengracht 263 gefunden ist. Es werden auch noch
einige andere Namen angeführt, deren allfällige Verräterrolle jedoch noch
weniger möglich scheint als jene drei, mit denen sich die Forschung bisher
intensiv beschäftigt hat. Letztlich kann irgendeine unbekannte Person den
Verrat begangen haben. Möglichkeiten dazu hatte jeder, der am Haus vorbeiging
und dem etwas aufgefallen sein könnte. Es wäre auch eine nicht zu bewältigende
Aufgabe, sämtliche Anrainer rund um das Haus herum ausfindig zu machen und
deren Lebenswege nachzuzeichnen. Schließlich könnte ebenso gut eine Person
einen Besuch in der Nähe des Hauses gemacht und dann den Verrat begangen haben.
Es ist wohl davon auszugehen, dass der Verräter der Versteckten nie eruiert
werden wird. In einem Nebensatz wird auch formuliert, die Versteckten könnten
durch unvorsichtiges Verhalten den Verrat "begünstigt" haben. Im
Tagebuch von Anne wird derartiges Verhalten eingehender beschrieben. Es bleibt
letztlich nur Spekulation, was es damit auf sich hat.
Die Untersuchung ist spannend aufbereitet;
insbesondere was die dritte Theorie betrifft. Doch es ist wie bei einem Krimi,
wo am Ende der Täter nicht überführt werden kann. In einigen kürzeren
Kapiteln wird davon berichtet, dass mindestens 8.000 von etwa 25.000 versteckten
Juden in Amsterdam verraten worden sein sollen. In den seltensten Fällen
versteckten sich mehrere Menschen dauerhaft. Viele Juden mussten ihr Versteck
zudem immer wieder wechseln. Da eine "Kopfprämie" für jeden
entdeckten Juden ausgesetzt war, denunzierten nicht nur Menschen, die mit dem
installierten System sympathisierten, sondern ebenso ganz "gewöhnliche"
Personen, welche offensichtlich ein Zubrot "verdienen" wollten. Für
einen Appel und ein Ei, um es einmal auf den Punkt zu bringen, haben Menschen
Juden verraten und tragen Mitverantwortung dafür, dass diese deportiert und
meist bestialisch ermordet wurden.
Der Bericht stellt eine gelungene Ergänzung
zur Erforschung der Niederlande dar. Die beschriebene dritte Theorie des Verrats
an den Versteckten der Prinsengracht 263 wird in den neuesten kritischen
Ausgaben der Tagebücher von
Anne
Frank Einzug halten.
(Jürgen Heimlich; 10/2005)
David Barnouw, Gerrold van der Stroom: "Wer
verriet Anne Frank?"
Agenda, 2005. 112 Seiten.
ISBN 3-89688-252-X.
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