Juri Andruchowytsch: "Zwölf Ringe"
Faustisches Spiel mit dem Unbekannten und Ungeahnten
Das Nichtwissen um das zweitgrößte Land Europas verbindet wohl die
meisten Österreicher mit Karl-Joseph Zumbrunnen, einem Wiener
Fotografen mit nachhaltigem Hang zur Ukraine. Doch was für die Mehrheit
in Staunen über die wilden Tänze der Huzulin Ruslana, Siegerin beim
Eurovision Song Contest 2004, und orangefarbenen Schals bei
winterlichen Demonstrationen im Advent 2004 endet, hat für den
Protagononisten tragische, ja fatale Folgen. Immer wieder - und für
seine Freundin und seinen gesamten Bekanntenkreis aus unverständlichen
Gründen - reist er in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre in das Land
seiner Vorfahren, nach Galizien, um zu wandern, zu fotografieren,
Ausstellungen vorzubereiten und unverstandene Briefe zu schreiben. Erst
als Engel wird er auf den letzten Seiten dieses sinnlich-paradoxen
Romans Ostmitteleuropa von
Lemberg bis
Wien als poetischen, vielleicht
auch politischen Traum erkennen.
"Jetzt ist es Zeit, sie alle erscheinen zu lassen." - mit diesen
Worten, die an das Vorspiel im Goethe’schen Faust erinnern, greift auf
Seite 29 der postmoderne (?) Erzähler in die Handlung ein und lenkt den
Blick des Lesers auf neun Menschen, die die Osterzeit (schon wieder
Faust?) auf einer von Einheimischen als teuflisch gemiedenen Hochalm im
"Wirtshaus 'Auf dem Mond'" verbringen, in einem Privathotel mit
bewegter Vergangenheit als Schispringerschule und Spionagezentrum: (1)
ein mafioser Unternehmer, der den neuen Kapitalismus des Ostens für
sich zu nutzen weiß, (2) ein "Teledesigner" mit dem Auftrag, einen
Werbefilm für ein ominöses Allheilmittel aus einer der zahllosen
Fabriken des Millionärs zu drehen, (3 und 4) zwei junge Damen, deren
möglichst unbedeckte Körper diesen Film zieren sollen, (5) ein
monologisierender Literaturprofessor, (6) ein trunkener Poet in midlife crisis
mit (7) Frau und (8) Stieftochter Kolja und schließlich (9) Karl-Joseph
Zumbrunnen, der die Frau des Poeten als Dolmetscherin und intime
Reisebegleiterin bei früheren Aufenthalten in der Ukraine zu schätzen
gelernt hat.
Alle neun, die sich wie die Figuren eines
Agatha Christie-Krimis
zwischen den Altertümern und Kuriositäten des galizischen Schlosshotels
verteilen, bis der Mord passiert, verbindet ein Name: Bohdan-Ihor
Antonytsch (1909-1937), ein gefeierter, bei uns unbekannter
ukrainischer Literat. Seine Lebensgeschichte im polnisch dominierten
Lemberg zwischen österreichisch-ungarischer Monarchie und sowjetischer
Besetzung erzählen der Literaturprofessor und der Erzähler selbst in
verschiedenen, widersprüchlichen Versionen, die sich über die
Anmerkungen am Buchende bis in die Biografie des Autors Juri
Andruchowytsch verflechten. Zitate aus dem Werk B.-I. Antonytschs
verbinden die unterschiedlichen Episoden und Handlungsstränge und
münden in ein literarisches Rätsel um die Bedeutung der zwölf Ringe,
das der ergraute Literaturprofessor der achtzehnjährigen Kolja stellt
und das nur sie als literarisch desinteressierte, aber mit der Poesie
des Lebens vertraute Jugendliche lösen kann.
Diese Begegnung ist nicht die einzige, in der wie in
V. Nabokovs Lolita
Textteile unterschiedlicher Ebenen - Roman, Literaturzitate, Anmerkung,
Kommentare des Autors, zeitgenössische Berichte über Antonytsch,
Zeitungsschlagzeilen, Visionen und Träume - eine nichtlineare Abfolge
von Erzählungen und Handlungen rekomponiert, die auch die zwei
bekanntesten Ruthenen bzw. Galizier der Kulturgeschichte einbezieht:
Andy Warhol und Leopold
von
Sacher-Masoch.
Die Dreiecksgeschichte zwischen Zumbrunnen, seinem Nebenbuhler Pepa und
seiner Übersetzerin und Ehefrau Pepas durchzieht diese literarische und
landeskundliche Spurensuche und schenkt dem Werk mit sinnlichen
Augenblicken und skurrilen Momenten wie z.B. einer Liebesnacht am
Autofriedhof die nötige, aber nicht immer leichte Spannung.
Dass sich dieses Buch eigentlich an ein ukrainisches Publikum wendet,
für das Bohdan-Ihor Antonytsch ein geläufiger Name ist und das mit den
millionenschweren Gewinnern der Privatisierung ebenso wie mit
Huzulenfolklore über die eingangs erwähnte Ruslana hinaus vertraut ist,
verhindert nicht den Lesegenuss. Die Übersetzerin Sabine Stöhr verstand
es meisterhaft, das Kraftfeld zwischen westlichen und östlichen
Klischees, zwischen Sozialkritik und magischem Realismus bei allem
chronologischen Zickzack zu fördern und schloss das Buch mit einem
erhellenden Essay über das Nichtverstandenwerden im Vaterland des
Masochismus ab.
(Wolfgang Moser; 04/2005)
Juri Andruchowytsch: "Zwölf Ringe"
(Originaltitel "Dvanadcjat’ obrucčiv")
Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr.
Suhrkamp.
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Juri Andruchowytsch, geboren
1960, lebt in Iwano-Frankiwsk in der Westukraine.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Perversion"
Stanislaw Perfecki, ein Held des ukrainischen Untergrunds, Dichter und
Ereigniskünstler, wird zu einem internationalen Symposion über den
postkarnevalistischen Irrsinn der Welt in Venedig erwartet. Unterwegs in die
Lagunenstadt gerät er in die Fänge von Bohemiens im dekadenten München,
verliebt sich in eine Frau, die jemand als Spitzel auf ihn angesetzt hat, und
wird in dämonische Intrigen und erotische Exzesse verstrickt.
Am offenen Fenster des Hotels am Canal Grande verliert sich Perfeckis Spur. Hat
dieser Künstler der Masken, der Fälschungen, Verdrehungen und anderen
"Perversionen" sein Verschwinden nur inszeniert? Fest steht: Wie in
Bulgakows "Der
Meister und Margarita", Andruchowytschs "Musterbuch", bricht
das Übersinnliche in die Alltagswirklichkeit ein und übernimmt die Regie.
Rabelais und Bachtin, Bulgakow und Esterházy haben Pate gestanden, als in der
Ukraine die literarische Postmoderne in Gestalt dieses Buches das Licht der Welt
erblickte. Ein entfesseltes Spiel mit Formen, Stilen, apokryphen Traditionen -
ein Lektüreabenteuer für alle, die lieber lachend mit der Literatur über das
Leben triumphieren, als an ihm zu verzweifeln. (Suhrkamp)
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"Geheimnis. Sieben Tage mit Egon Alt"
Wo bist du glücklich
gewesen? Warum hast du beim Fußball geweint? Wessen Bücher würdest du
auswendig lernen? Fragen eines deutschen Journalisten an einen ukrainischen
Schriftsteller, der ein Jahr in Berlin verbringt. Sieben Tage lang sprechen Egon
Alt und Juri Andruchowytsch über Habsburg im Sowjetlook, über Bahnhöfe,
Grenzpfähle und vergessene Träume, über verbotene Musik, Rekruten in der
Roten Armee und die legendären Happenings der Performance-Gruppe BuBaBu. Sieben
Kapitel "über mich und die Zeit, in der ich lebe", wie Juri
Andruchowytsch im Vorwort zu seinem neuen Buch schreibt. Von der Katastrophe im
Jahr 1969, als Dynamo Kiew gegen Spartak Moskau verlor, bis zu dem Moment, als
Breschnews Sarg mit voller Wucht ins Grab knallte, vor Millionen
Fernsehzuschauern in der ganzen Sowjetunion, deren Zusammenbruch sich hiermit
ankündigte. Vom Putsch in Moskau bis zur orangen Revolution und der
Katerstimmung danach: Der exzessive Dialog, der ihn mit seinem Leben und
Schreiben konfrontiert, ist ein spannendes Stück Zeitgeschichte. Selten greifen
Privates und Politisches so eng ineinander wie in diesem ironischen Porträt
eines Autors, der sich selbst nicht über den Weg traut. (Suhrkamp)
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"Moscoviada"
Otto von F., Literaturstudent aus der Westukraine, lebt in Moskau, dem "fauligen
Herzen des halbtoten Imperiums". Im Wohnheim des Gorki-Instituts hocken die
poetischen Hoffnungen aus der sowjetischen Provinz aufeinander, künftige
Vertreter der jungen Nationalliteraturen, die Gedichte in mittelalterlichem
Jiddisch, ukrainische Verspoeme und usbekische Songstrophen verfassen. Es ist
Anfang der neunziger Jahre, die Stimmung gereizt, der Wodka knapp ...
An einem nassen Maitag zieht er los, um Geschenke in der "Kinderwelt"
zu besorgen, dem Kaufhaus direkt neben dem KGB-Gefängnis Lubjanka. Er verirrt
sich in Fluren und Treppenhäusern, landet in den Tunneln der Kanalisation und
gerät in die Gewalt von Geheimdienstbeamten, die hier unten ein Rattenheer
züchten.
Was Otto von F. in den Katakomben unter dem Kreml und auf den Gleisen der
geheimen Regierungsmetro widerfährt, das erzählt sein Vergil durch die Hölle
Moskaus, Juri Andruchowytsch, mit Sarkasmus und groteskem Witz.
"Moscoviada", Andruchowytschs erfolgreichstes Buch, ist von
überraschender Aktualität. Das neoautoritäre Russland, der eifernde
Nationalismus, die Verklärung der kommunistischen Epoche, der chauvinistische
Kitsch, der ideologische Druck - all diese Gespenster werden in einem
karnevalesken Spektakel unter panischem Gelächter zum Teufel gejagt. (Suhrkamp)
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