Cees Nooteboom: "Allerseelen"
Winter
in Berlin, kurz nach der
deutschen Wiedervereinigung oder wie man den
Vorgang nennen will. Der Leser erlebt die alte neue Hauptstadt mittels
niederländischer Augen, der des Autors zunächst, und
dann auch der seines Helden:
Arthur Daane, der vor Jahren Frau und Kind bei einem Flugzeugabsturz
verloren hat, ist Kameramann von Beruf, freiberuflich aber
unselbstständig, je nach Auftragslage filmt er
Klöster, Kriege oder einzelne Persönlichkeiten auf
der ganzen Welt. Solcherart zur Mobilität gezwungen
unterhält er drei kleine Zimmer,
in Madrid, Amsterdam und eben
Berlin.
In seiner freien Zeit, und das können je nach Auftragslage
beziehungsweise Geldbedarf Monate sein, frönt er seinem Hobby,
er packt seine Kamera ein, begibt sich an unscheinbare Orte und filmt
für sein ganz persönliches Archiv
alltägliche, nicht beachtete oder vergessene Dinge, seien es
die sich auf dem Gehsteig vorwärtsbewegenden Schuhe der
Passanten, Enten
in einem Teich, was immer ihm seine Inspiration gerade eingibt.
Und diese Nebenbeschäftigung Daanes, sein Versuch, der
vergehenden Zeit in irgendeiner Weise habhaft zu werden, in ihren
unscheinbarsten Fänomenen ihres Wesens angesichtig zu werden,
ist - neben dem Willen zur Unterhaltung - auch das Hauptmotiv des
Romans. Daanes Freunde, Künstler und Wissenschafter und eher
zur bewussteren Gattung Mensch gehörend, berühren das
Thema in ihren zahlreichen Diskussionen von den verschiedensten
Blickwinkeln aus, von
Hegel zu pfälzischem Schinken zur EU-Osterweiterung,
von Caspar David Friedrich zum ersten bemannten Marsflug zur modernen
Medienwelt, bei solchen leichtfüßigen, aber
keineswegs leichtfertigen Gedankensprüngen ist
Zeit
(Geschichte,
Erinnerung, Vergessen) die Konstante. Und ist das an sich schon eine
unterhaltsame, geistreiche Lektüre, hinterlässt sie
als Nebenwirkung beim Leser ein authentisches Gefühl von der
Relativität jedes Zeitgeists und vielleicht der Ahnung etwas
allgemeineren.
Geschichtsdurchtränkt - wiewohl unter den
europäischen eine der jüngeren - ist auch die Stadt,
deren Einwohner kaum im Hier und Jetzt, sondern entweder
geschichtsleugnend oder besessen von ihr leben. Und anhand der
Charaktere der Romanfiguren kommt auch eine Ebene psychologischen
Zeitgefühls, individueller Grundhaltungen, ins Spiel. Die
Frage stellt sich, wieweit die Personen wirklich agieren und wieweit
sie nur auf eine neue Situation mit alten Mustern reagieren, auf diese
Weise eine früh geprägte Opferrolle
bestätigend.
Die Haltung von Daane führt ihn schließlich in eine
dramatische Liebesgeschichte, denn dass Nooteboom sein geistvolles Buch
auch mit einer spannenden Handlung würzt, versteht sich bei
diesem Autor von selbst.
(fritz)
Cees
Nooteboom: "Allerseelen"
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Suhrkamp, 2006. 440 Seiten.
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