Marco Aldinger: "Geschichten für die kleine Erleuchtung"

Das Buch zur Bewusstseinserheiterung

Reich ist, wer nichts zu verlieren hat


Das kleine Taschenbuch von Herder spektrum besticht durch die gelungene Einbandgestaltung. Im fernöstlichen Tuschstil gehalten beobachtet eine Ratte, wie sich die Flamme einer Kerze im Luftzug neigt. Das Rot der Kerze setzt sich im Rot des Einbandes weiter fort. Eine ähnliche Vollkommenheit erwartet sich der Leser jetzt vom Inhalt des Buches. Und so freuen wir uns, wenn wir in der Einleitung lesen, der Autor möchte uns mit Geschichten, Aussprüchen und Gedankensplittern erheitern, auf dass wir durch das Lachen eine Mini-Erleuchtung erfahren und uns so von unzähligen Vorstellungen, die wir als feste Wirklichkeit betrachten, befreien mögen. Durch das Lachen Satori erlangen, welch schöne Vorstellung (von der wir durch dieses Buch ein wenig befreit werden, wie noch zu lesen sein wird).

Der Titel des ersten Kapitels lautet "Ohne Titel", wie dann der Titel des zweiten Kapitels lautet "Mit Titel" und der Titel des dritten Kapitels "Sowohl mit als auch ohne Titel"!? Da jedoch die Geschichten aller Kapitel in gleicher Weise betitelt sind und andere Erklärungen für diese Titelwahl dem Rezensenten nicht in den Sinn kamen, vermutet er Tieferes, ihm nicht Zugängliches (obwohl dann im Zuge der Lektüre die Vermutung aufkam, es handle sich dabei nur um seichten Witz, welcher sich als ein roter Faden durch das Buch zieht).

Marco Aldinger wurde 1955 geboren und studierte Philosophie und Religionsgeschichte. Heute lebt er bei Freiburg und praktiziert Kendo und Zen. So stammen auch viele Geschichten aus dem Fernen Osten und handeln von den Begebenheiten mit berühmten Zen-Meistern. Diese Geschichten sind kurz und bestechen durch ihre Einfachheit. Manche von ihnen erstaunen, manche verwirren. Aber in nahezu allen spürt man die starke Kraft des Zen und seiner Weltsicht. Auch für den Leser, der sich noch nicht mit dieser Philosophie auseinandergesetzt hat, ist es möglich, über diese Geschichten in das Wesen des Zen Einsicht zu erlangen. Von ähnlicher Stärke sind die Sufi-Geschichten von Mulla Nasrudin, in denen dieser den Narr spielt und so den Menschen einen Spiegel vorhält. Auch viele der Anekdoten jüdischer Rabbis zeigen vom Wortwitz dieser Kultur. Aber während eine Mischung dieser Geschichten auf den ersten Seiten begeistert, schleichen sich schön langsam Witze ein. Nichts gegen Witze, denn schon Sigmund Freud hat ihre Bedeutung zur Heilung betont. Aber es bleibt einem nahezu der Atem stehen, denn man hält es nicht für möglich, dass sich auf einmal solch eine Seichtheit des Humors in dieses Buch geschmuggelt hat. Jedoch bemerkt man sehr schnell, dass diese Witze vom Autor beabsichtigt waren. Es handelt sich um Witze, die vermutlich aus billigen Witzesammlungen stammen, einem am Stammtisch in feuchtfröhlicher Runde einen Lacher entlocken mögen, ansonsten ziemlich schwach sind und man Mühe hat, die Mundwinkel auch nur ein wenig zu einem Lächeln zu verziehen. Dabei gibt es genügend gute Witze, und die Frage bleibt offen, wie so ein Missgriff gelingen konnte.

Die Aussprüche und Sprichwörter, die den Geschichten folgen, zeichnen sich durch ein gleichmäßigeres Niveau aus. Größen wie George Bernard Shaw, Woody Allen, Albert Einstein, Konrad Lorenz u.s.w., kommen zu Wort, lassen uns schmunzeln und nachdenken. Dann folgen jedoch aber-, irr- und wahnwitzige Gedanken-Splitter, von denen nicht klar ist, ob sie vom Autor stammen, oder ob sie ebenso nur zusammengetragen worden sind wie die Geschichten und die Aussprüche. Dabei drängt sich schon der Gedanke auf, man habe einfach eine Zeit lang Sprüche aus Büchern und Witze aus diversen Tageszeitungen notiert und das Ganze dann mit klassischen Anekdoten aus Fern- und Nahost vermischt, um daraus ein Buch zu machen. Ein Buch, das den Eindruck vermittelt, alles sei auf dem Mist des Autors gewachsen, denn es findet sich keine weiterführende Literatur und keine einzige Quellenangabe. Aber zurück zu den Gedanken-Splittern. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind diese Splitter Dornen in den Ohren und Gedanken des Rezensenten. Man wird das Gefühl nicht los, dass der Autor mit aller Gewalt als lustig und originell gelten will. Es hat ihm noch keiner gesagt, dass man heute über Vergewaltigung (auch wenn die Wahrheit das Opfer ist) keine platten Witze mehr reißen sollte. Schon gar nicht, wenn damit induziert wird, dass alles was nackt ist, zur Vergewaltigung freigegeben ist. Das ist politisch einfach nicht korrekt.

Dadurch, dass die tiefgründigen Geschichten durch seichte Witze und bedenkliche Gedanken-Splitter stark verwässert werden, ist das Lesen wie eine Warm-Kalt-Dusche und man kann dieses Buch leider nur bedingt empfehlen. Treffsicherer ist es gewiss, wenn man sich an die Originalliteratur des Zen, der Sufis und der Rabbis hält.

 (Ivan Kristianof; 02/2003)


Marco Aldinger: "Geschichten für die kleine Erleuchtung"
Herder,
2002. 208 Seiten. 
ISBN 3-451-05331-4.
ca. EUR 9,90.
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