Norbert Mappes Niediek: "Krieg in Europa. Der Zerfall Jugoslawiens und der überforderte Kontinent"


Krieg am Balkan - und Europas Beitrag

"Serben und Muslime unterscheiden sich dadurch, dass die einen nicht in die Kirche und die anderen nicht in die Moschee gehen.", lautete ein bosnisches Bonmot. (Seite 143)
Von solchen Aphorismen, eigenem Erleben oder prägnanten Interviews ausgehend, weiß der deutsche, seit vielen Jahren in Graz – näher am Geschehen in seinem Spezialgebiet! – lebende Journalist, die Tragik und Absurdität der Kriege im Europa der 90er-Jahre darzustellen. 
Fünf Kapitel sind den ehemaligen Republiken und Kriegsetappen gewidmet, Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, militärische Schläge der USA gegen Serbien und schließlich Kosovo. Kapitel zur Genese des kroatischen Nationalstaats im Postsozialismus und zum Tod der multikulturellen Gesellschaft, besser: des fragilen interethnischen Gleichgewichts, in Bosnien verdeutlichen der Leserschaft die Vorgeschichte, wobei hier an ein vornehmlich deutsches Publikum gedacht ist. Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl und sein Außenminister Hans-Dietrich Genscher sind im Buch wie in der damaligen europäischen Politik allgegenwärtig. Über Alois Mock, Außenminister Österreichs, dem oftmals eine zu slowenien- und kroatienfreundliche Diplomatie vorgeworfen wurde, oder seinen Parteiobmann, den mitteleuropäisch orientierten Vizekanzler Erhard Busek, liest man nichts, auch nicht von den Bundeskanzlern Bruno Kreisky oder Franz Vranitzky.
Durch alle Kriege dieser Region ziehen sich nach Mappes-Niediek zwei gegenläufige Konzepte: Die Nation, die in einem Territorium die Mehrheit hatte, z. B. Kroaten in Kroatien, Serben in ganz Serbien inkl. Kosovo, gab sich staatsbürgerlich und verfassungstreu, um die Integrität des Staatsgebildes mit allen Mitteln zu verteidigen. Für die Minderheiten, Krajina-Serben, Kosovo-Albaner usw., war die Souveränität der Nation das höchste Gut; sie wog mehr als der Bestand des Territoriums.

Was erstaunt oder vielleicht gar nicht so überraschen sollte, ist die Rolle von Figuren aus der Halb- und Unterwelt in diesen Kriegen, die sich in übler Allianz den selbsternannten politischen Rettern der Nationen anboten, z. B. der international aktive Bankräuber Željko Ražnatović, genannt Arkan, der für seine Garde, die Tiger, Hooligans aus dem Fußballclub Roter Stern Belgrad um sich scharte. Gleichzeitig waren auch Intellektuelle nie gegen einen nationalistischen Schwenk ihrer Gesinnung immun. Der kroatische Befehlshaber Slobodan Praljak, der die Zerstörung der Brücke von Mostar im Herbst 1993 zu verantworten hat, war studierter Soziologe und Philosoph und führte an zahlreichen Theatern Regie. Kurz vor dem Krieg drehte er noch Filme mit bosnischen Muslimen, Menschen, deren Vertreibung er später organisierte.
Bewusste Akte der Brutalität, ethnische "Säuberungen" verbunden mit der Zerstörung von Kulturdenkmälern und der Vertreibung oder Ermordung von Zivilisten sollten für alle Zukunft Landstriche für die eigene ethnische Gruppe sichern, dazu bediente man sich krimineller Elemente.
Vergleiche der Jugoslawienkriege mit dem Geschehen im Zweiten Weltkrieg, wie sie im westlichen Ausland oft gezogen wurden, gehen fehl. In den vier Kriegen der 90er-Jahre kamen so viele Menschen ums Leben wie am tödlichsten Tag des Zweiten Weltkriegs am 9. März 1945. Die Lager um Prijedor waren nicht Auschwitz, nicht einmal Bergen-Belsen, das eine Viertelmillion Menschen nicht überlebte.
All dies war führenden Personen der Europäischen Gemeinschaft, heute Europäische Union, nicht bewusst, auch nicht die Winkelzüge der Geschichte in dieser ethnisch kleinteiligen Region, der Umgang mit kaum legitimierten Potentaten oder die Folgen des Handelns oder des Zögerns. Der Fall Jugoslawien und sein Zerfall war zumeist von westeuropäischen Eigeninteressen, innenpolitischem Kalkül in Frankreich, Deutschland, Großbritannien … und einem Nichtwahrnehmenwollen neuer politischer Wirklichkeiten geprägt. Eine Überforderung des Kontinents, die im Hinblick auf derzeitige nationale Aggressionen das Werk zum Lehrbuch macht.

Norbert Mappes-Niediek ist eine der gründlichsten und dennoch durchgehend leicht lesbaren Darstellungen dieser Epoche gelungen. Er arbeitet und schreibt präzise, immer objektiv, vor allem kenntnisreich. Anders als in vielen anderen populärwissenschaftlichen Werken fehlt kein slawisches Sonderzeichen auf den Buchstaben der slowenischen, bosnischen, serbischen, kroatischen Namen; auch Albanisch meistert der Fachautor für Südosteuropa.

(Wolfgang Moser; 12/2022)


Norbert Mappes-Niediek : "Krieg in Europa. Der Zerfall Jugoslawiens und der überforderte Kontinent"
Rowohlt Berlin, 2022. 400 Seiten.

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