Henning Mankell: "Der Verrückte"
Henning Mankell war noch
keine 30 Jahre alt, als er "Vettvillingen" schrieb. 44 Jahre nach der
Veröffentlichung in Schweden liegt nun die deutschsprachige Ausgabe
vor. Für Mankell-Anhänger durchaus eine interessante Entdeckung.
Der Roman zeichnet sich durch zwei Aspekte aus. Zum Einen wird eine
Thematik beschrieben, die Mitte der 1970er-Jahre in Schweden nahezu
unbekannt war. Während des Zweiten
Weltkriegs gab es auch in Schweden Internierungslager und
politisch Unerwünschte, insbesondere Kommunisten, wurden dort zu
Arbeitsdiensten eingesetzt, um es harmlos auszudrücken. Dies diente zum
Zweck, kommunistische Einflüsse zu vermeiden. Zum Anderen wird ein
Polizist, der im Roman Lönneberg heißt, beschrieben. Ein Polizist, der
einen Hass auf die Kommunisten hat und der dem aus Stockholm kommenden -
also Auswärtigen - Bertil Kras nicht gut gesinnt ist.
Das Geschehen spielt sich in einem kleinen Dorf ab, wohin es Bertil, die
Hauptfigur, verschlägt. Er erfährt bald davon, dass hier im Krieg ein
Internierungslager bestand. Und dass einige der Inhaftierten immer noch
im Dorf leben. Im Jahr 1951, also wenige Jahre nach dem Krieg, wird
Staub aufgewirbelt, was das Dorf in Unruhe versetzt. Auch besagten
Lönneberg, der sich im Krieg nicht als Gegner der Nazis hervorgetan hat.
Den Widerständlern, also den Kommunisten, wird nicht zugestanden, unter
den Zuständen gelitten zu haben. Sie wollen sich zur Wehr setzen, indem
sie einen Brief in einer Zeitung platzieren. Und der Schuss geht nach
hinten los. Der Schuldige, der für den Brief verantwortlich ist, wird
schnell gefunden. Bertil Kras, der sich besonders gut als Opfer eignet.
Er ist bekennender Kommunist, und als schließlich das Sägewerk abbrennt,
in dem er seine Arbeit getan hat, wird er von allen Seiten als
Beschuldigter eingekreist, auch wenn die Polizei - allen voran Lönneberg
- nicht daran glaubt, dass er den Brand gelegt hat.
Mankell erzählt ein dunkles Kapitel der schwedischen Geschichte.
Mittlerweile ist erwiesen, dass in Storsien ein Arbeitslager bestanden
hat, einem kleinen Dorf mitten im
Wald. Es könnte sein, dass Mankell von fiktiven Menschen erzählt,
die in diesem Dorf gelebt haben. Von Menschen, denen daran gelegen war,
nicht an die Kriegsjahre erinnert zu werden. Und von Menschen, die
diesem Schweigen etwas entgegensetzen wollten.
Was Bertil Kras alles zugemutet wird, kann letztlich nur zur Eskalation
führen. Die Frage ist lediglich, welche Auswirkungen das hat. Er will
sich nicht damit zufrieden geben, dass ihm kein Glauben geschenkt wird.
Es wurde der Versuch unternommen, ihn einzuschüchtern, und Lönneberg
stellt die Ermittlungen ein.
Lönneberg ist eine Figur, die ein Gegenpol zum allseits bekannten
Kommissar Wallander ist. Er hat gar kein Interesse daran, einen
brisanten Fall aufzuklären. Er will nur loyal denen gegenüber sein, die
ihn seine Arbeit tun lassen. Er lässt schon einmal jemanden über die
Klinge springen, wenn es aus seiner Sicht sein muss. Er hat überhaupt
kein Problem damit, keine gute Arbeit zu leisten.
"Der Verrückte" ist ein Werk, das viele Jahre vor dem ersten
"Wallander"-Fall entstanden ist. Henning Mankell begab sich auf
eine Spurensuche in die schwedische Geschichte, und seine
sozialkritische Haltung ist schon hier manifest. Es war der Beginn einer
Reise wie auch für Bertil Kras. Was diesen Roman lesenswert macht ist,
wie Bertil Kras in die Geschichte eingeführt wird, sich ins Dorf
integrieren will und daran nur scheitern kann. Er erlebt eine
Liebesgeschichte, die an skandinavische Filme gemahnt. Und tatsächlich
würde sich diese Geschichte sehr gut als Film eignen. Denn all das, was
nicht erzählt werden kann und zwischen den Zeilen steht, könnte ein Film
durch beeindruckende Bilder andeuten.
Es gibt nun also ein weiteres Mosaiksteinchen im Schaffen von Henning
Mankell, das durch die Thematik überraschen mag und vielleicht gerade
deswegen seine Leserschaft im deutschsprachigen Raum beeindrucken mag.
(Jürgen Heimlich; 10/2021)
Henning Mankell: "Der Verrückte"
(Originaltitel "Vettvillingen")
Übersetzt von Andrea Fredriksson-Zederbauer.
Zsolnay, 2021. 512 Seiten.
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