Jonas Hassen Khemiri: "Die Vaterklausel"
Über die Verfehlungen
der Väter
Auch wenn ein Großvater und seine beiden Kinder hier im Mittelpunkt
stehen, ist es doch in erster Linie der Großvater, ein alternder
Patriarch, der, so wird es zumindest nur angedeutet, wahrscheinlich
irgendwo aus dem arabischen Raum stammt, der alle Gedanken und
Handlungen, sogar die der sich bereits längst emanzipierten Kinder,
bestimmt. Großteils indirekt natürlich. Er ist ein begnadeter Verkäufer,
der nicht mehr in Schweden wohnt, aber zweimal im Jahr nach Schweden
zurückkommt, um seinen Aufenthaltsstatus nicht zu verlieren. Um seine
Kinder und Enkel zu sehen, sagt er indessen. Weil er uns vermisst, sagt
die Tochter. Weil er eine Menge Steuern zahlen müsste, wenn er mehr als
sechs Monate nicht in Schweden lebt, sagt der Sohn. Wenn er in
Schweden ist, lebt er im Büro des Sohnes.
In Wahrheit ist er abhängig von seinen erwachsenen Kindern, weil sie
alles für ihn regeln und ihm dabei helfen, sich zurechtzufinden. Von
seinen Steuern bis hin zu Arztbesuchen. Da die beiden das aber schon so
lange gemacht haben und der Sohn mit seinem mathematischen Verstand
längst verstanden hat, dass sie sich bereits genauso lange um den Vater
gekümmert haben wie er sich damals um sie, verstehen sie, dass sie
eigentlich quitt seien.
Die im Titel angesprochene Vaterklausel führt dahin, dass der Sohn sich
um den Vater kümmert und ihn in seinem Büro wohnen lässt, wenn er kommt.
Quasi als Gegenleistung dafür, dass der Vater ihm "damals" seine Wohnung
überlassen hat. Doch der Sohn will nicht mehr, er will diese Klausel
endlich aufheben. Zu groß ist das Trauma, dass der Vater damals ihn,
seine Schwester und die schwedische Mutter verlassen hat. Sein ständiger
Kampf um die Liebe des Vaters hat ihn zermürbt, der Punkt ist gekommen,
wo es einfach nicht mehr geht.
Der Sohn, der, ganz anders als der Vater, immer bemüht ist, ein guter
Vater zu sein, er nimmt sich lange Elternzeit, ist immer verfügbar, auch
wenn stattdessen die Freundin Vollzeit arbeitet. Und doch, immer wieder
schimmert als Ansatz durch, dass all diese Bemühungen in erster Linie
darauf abzielen, es besser zu machen als der Vater.
Zehn Tage begleitet man als Leser die Familie
während eines Besuchs des Patriarchen. Während der Roman grundsätzlich
im auktorialen Präsens gehalten ist, das nur für Rückblenden verlassen
wird (obwohl das Auktoriale bleibt), hat man dennoch fast immer das
Gefühl, einem zutiefst persönlich geprägten auktorialen Erzähler zu
lauschen. Trotz aller Distanz, die Khemiri in seinem Roman vordergründig
klarstellt, ist die Rezeption des Texts extrem parteiisch und emotional
geprägt. Das ist vielleicht eine der stärksten Aspekte dieses Romans,
dieses Auseinanderklaffen eines distanziert wirkenden Abgrunds, der im
eigentlichen Sinn überemotionalisiert ist. Immer wieder erlebt man
Stellen aus verschiedenen Perspektiven, die, wie bereits angesprochen,
dennoch immer von der Wahrnehmung des auktorialen Erzählers geprägt
wirken.
Ein wenig ermüdend ist die bemüht entpersonalisierte Figurenbenennung.
Da alle quasi anonym bleiben, ist es immer "der Großvater, der ein
Vater ist" oder "der Sohn, der Vater geworden ist" oder
"die Tochter, die auch Mutter ist", die in den jeweiligen
Szenen als Figuren auftauchen. Unter Umständen ist das im Schwedischen
weniger auffällig, im Deutschen erschöpft sich das rasch. Und so hofft
man als Leser, dass sich die ganze Energie, die sich im Verlauf der zehn
Tage aufbaut, am Ende Luft verschafft, mit einem Ausbruch, einer
Explosion oder Implosion. Doch nein, man will ja Familie sein,
prinzipiell, ja und nein, und dann doch, auch wenn man mit den Umständen
nicht gern lebt. So bleibt es beim kurzen Kitzeln des Löwen, nicht mehr
und nicht weniger.
Khemiri, der mit einem Roman über einen schwedischen Halbwüchsigen
arabischer Herkunft anno 2003 einen Helden der interkulturellen,
schwedischen Literatur schuf und so mit viel Applaus die Literaturszene
betrat, hat mit "Die Vaterklausel" einen Familien- oder
Generationenroman geschrieben, der grundsätzlich unterhaltend ist,
stilistisch eigenwillig, und extrem bewusst mit Wiederholungen,
Abweichungen und falsch verstandenen Wahrheiten arbeitet. Viel
Inszenierung, der am Ende aber doch leider so richtig die Luft ausgeht.
Die Mittelklassefamilie, die einen angedeuteten Migrationshintergrund
hat, könnte nämlich genauso gut eine Familie aus dem hohen Norden
Schwedens sein. Wenn Khemiri die Hinweise bewusst setzt, wieso nicht
klarer? Der Großvater könnte nämlich ebenfalls aus Bulgarien, Brasilien,
Russland oder einem anderen Nicht-EU-Land einreisen. Und wenn er die
Offenheit will, Patriarchen gibt es ja genug, da und dort, wieso stellt
er das nicht klar?
In vielen Abschnitten ist dieser Roman unterhaltend, geistreich, mit
genügend Aha-Erlebnissen ausgestattet, die den einen oder anderen Leser
an seine Familienverhältnisse erinnern werden. Auch die subjektive,
auktoriale Erzählstimme ist per se gelungen, erlaubt nur relativ wenig
unverfälschte Gedanken, doch das ist sicherlich Absicht des Autors. Als
Ganzes ist der Roman nur zu wenig fokussiert, er ist zu sehr auf Momente
und Szenen konzentriert. Und was dem Text leider fehlt, ist das
unvermittelt Farbige und Treffende der früheren Romane des Autors.
(Roland Freisitzer; 03/2021)
Jonas
Hassen Khemiri: "Die Vaterklausel"
(Originaltitel "Papaklausulen")
Übersetzt von Ursel Allenstein.
Rowohlt, 2021. 336 Seiten.
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