Clemens J. Setz: "Die Bienen und das Unsichtbare"
Mehr
als vierhundert Seiten lang ist "Die Bienen und das Unsichtbare"
geworden, die Frucht der jahrelangen Auseinandersetzung von Clemens J.
Setz mit künstlich geschaffenen Sprachen wie beispielsweise Esperanto.
Setz nimmt den interessierten, aber womöglich nicht so feurigen Leser
mit auf einen Streifzug durch diese Welt der Plansprachen, beleuchtet
deren Schöpfer und prägende Sprecher, Sprachstruktur, Wortbildung
sowie die unterschiedlichsten sonstigen Aspekte. Er schreibt dieses seltsame
Sachbuch in einem munteren, beinah jovialen, den Leser direkt
ansprechenden Ton und baut auch gerne - manchmal direkt, manchmal sehr
am Rande - zusammenhängendes autobiografisches Material ein:
"Neben mir surrte eine
Gegensprechanlage, obwohl niemand sonst davor stand. Offenbar wollte
das Haus, dass ich es betrat, aber nein, nicht mit mir, Junge, ich hab
genug Grimm-Märchen
gelesen in meinem Leben." (S. 162)
Mit
einem autobiografischen Erlebnis verknüpft und Anlass, auf gravierende
pädagogische Fehler und Unterlassungen in noch nicht allzu weit
zurückliegender Zeit hinzuweisen, ist des Autors erste Begegnung mit
Bliss-Symbolen während einer kindlichen Theateraufführung. Bei den Bliss-Symbolen handelt es sich um eine Sprache, die
ohne Zunge auskommt (mit irgendetwas deuten zu können, genügt) und es
solchermaßen zu sinnvoller praktischer Anwendung als höchst bewährtes
Kommunikationsmittel für Personen mit eingeschränkten oder nicht
vorhandenen Sprechfähigkeiten gebracht hat.
Setz erzählt von den Fällen einiger Kinder, welchen die Entdeckung
dieser Symbole eine ganze Welt aufgeschlossen hat, sowie vom Leben und
Streben des Charles Bliss, der 1897 als Karl Blitz in
Czernowitz geboren wurde, dem durch einen als Knabe erlebten
Vortrag über
die österreichisch-ungarische Nordpol-Expedition die Sehnsucht
nach unbekanntem Land erwuchs und in Shanghai, wohin es ihn mit seiner
Frau auf der Flucht vor dem nationsozialistischen Deutschland
verschlagen hatte, die Idee zu dieser von den chinesischen
Schriftzeichen inspirierten Symbolsprache kam.
Direkte Kommunikation "ohne jede Reibungsenergie und Trägheit"
(S. 38) sollte diese Sprache sein, reine
Bedeutung (wie der Autor zeigt, war Bliss nicht der einzige von dieser
Vorstellung Beseelte), nicht anfällig gegen Vorurteile, sanfte
Manipulation wie brutale Demagogie.
Das weitere Leben des späteren Australiers Bliss veranschaulicht indes
die nicht untypische utopische Heilserwartung ebenso wie - trotz der
unvermuteten therapeutischen Anwendung - Zorn und Enttäuschung des
Schöpfers, als er sein Konstrukt in späteren Jahren ihres
weltanschaulichen Aspekts verlustig gehen, keine "isolierte Priesterkaste des neuen
Bewusstseins" schaffen und gegen seine Zustimmung von
Anderen weiterentwickelt sehen muss.
Ebenfalls ein starkes
ideelles Element wohnte der von dem
katholischen Pfarrer Johann Martin Schleyer
Ende des 19. Jahrhunderts geschaffenen Plansprache Volapük mit ihrer
Devise "Menade bal - püki bal!" bzw. "Eine Menschheit - eine Sprache!"
inne, welche es kurzzeitig zu einer großen Mode und zahlreichen mehr
oder weniger Sprachkundigen brachte, deren Niedergang jedoch rasch
einsetzte, als sich ihr Schöpfer (als "Papst" wird er und mit ihm ein
gewisser Typus dieser Sprachkonstrukteure von Clemens J. Setz wegen
ihrer dogmatischen Neigung bezeichnet) gegen Kritik verwehrte und
Veränderungsvorschläge kategorisch ablehnte.
Etwas weniger ausgiebig
beschäftigt sich Setz mit anderen Plansprachen wie Láadan, dem Versuch, eine
spezifisch weibliche Sprache zu entwickeln, aUI, Ithkkuil, Prashad,
Talossa, Klingonisch,
Quenya
und manchen anderen, wobei die letzteren beiden, wie manch
einer wissen wird, zu rein literarischen Zwecken erschaffene und nur
im Ansatz vorhandene darstellen.
Ein größeres Kapitel widmet
der Autor einer besonderen Leidenschaft, dem Interesse an
Worterfindungen in der Dichtung, sei es reiner Nonsens (der jedoch in
der Interpretation Bedeutung gewinnen kann) oder absichtlich Kryptisches
wie etwa im Fall von H.C.
Artmann und dessen sich sehr frei und kreativ äußernder
Inspiration durch keltische Sprachen.
Übrigens betätigt sich Clemens J. Setz in seinem Buch häufig selbst
nicht nur als Deuter und auf besondere sprachliche Eigen- und Feinheiten
Hinweisender, sondern als Übersetzer verschiedenster in Plansprachen
geschriebener Gedichte, zwar nicht ohne äußere Hilfe, doch mit einem
Deutsch, dem man die Lust an solchen Aufgaben deutlich anmerkt.
Um "Die Bienen des
Unsichtbaren", als welche Rilke
die Dichter einmal bezeichnet hat, geht es dann auch hauptsächlich in
dem Teil über die Plansprache mit den meisten aktiven Sprechern,
Esperanto, bei welcher im Gegensatz zu Volapük Wert auf einfache
Erlernbarkeit (nicht zuletzt durch den hauptsächlich romanischen
Wortstamm) und die Notwendigkeit beständiger Weiterentwicklung gelegt
worden ist.
Ihr Schöpfer, Ludwik Lejzer Zamenhof ist, da bescheiden hinter sein Werk
zurückgetreten, dabei weniger Gegenstand als ihre Literaturtauglichkeit,
die bereits Kandidaten für den Literaturnobelpreis hervorgebracht hat.
Setz widmet sich ausführlich (zahlreiche Beispiele und eigene
Übersetzungen eingeschlossen) dem Werk der Esperanto-Dichter
Baldur Ragnarsson, Jorge Camacho, Spomenka Štimec und Wasili Eroschenko.
Letzterer hat es ihm besonders angetan, denn der Autor zeichnet mit
einem gewissen Staunen etliche der abenteuerlichen Lebensstationen des
mit vier Jahren erblindeten Dichters, Musikers, Lehrers und Anarchisten
zwischen Westeuropa, Russland, China und Japan nach.
"Als ich mein Plansprachenprojekt vor gut
sechs Jahren begann, ahnte ich allerdings auch nicht, dass es
derartige Reichtümer gab, dass die Welt tatsächlich noch
weitgehend unentdeckt ist." (S. 407), heißt es am Ende.
Clemens J. Setz hat sicher bei weitem nicht alle seine
Entdeckungen und Erfahrungen in dieses Buch aufgenommen, aber mehr als
genug, um es zu einem unterhaltsamen, interessanten, lehr- und
abwechslungsreichen Streifzug durch die Welt der Plansprachen zu machen.
(fritz; 12/2020)
Clemens
J. Setz: "Die Bienen und das Unsichtbare"
Suhrkamp, 2020. 416 Seiten.
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