Kerstin Hensel: "Regenbeins Farben"
Novelle
Drei Witwen treffen regelmäßig
auf dem Friedhof zusammen, um unter dem Lärm und Gestank startender sowie
landender Flugzeuge die Gräber ihrer verstorbenen Ehemänner zu pflegen. Die drei
Frauen könnten unterschiedlicher nicht sein: Lore Müller-Kilian,
Industriellenwitwe und Champagnerliebhaberin, die auch nicht davor
zurückschreckt, am Grab ihres verstorbenen Gatten ein Fläschchen zu leeren. Ziva
Schlott, pensionierte Kunstprofessorin, Zynikerin und Kettenraucherin. Und
Karline Regenbein, Malerin und Witwe des despotischen Starfotografen Rüdiger
Habich. Was sie alle drei verbindet, ist ihr reges Interesse an dem Galeristen
Eduard Wettengel, der plötzlich regelmäßig auf dem Friedhof auftaucht, um sich
um das Grab seiner verstorbenen Frau Odila zu kümmern.
Die drei Frauen
buhlen auf unterschiedliche Weise um die Gunst des attraktiven und scheuen
Galerieinhabers. Im Lauf der Novelle offenbart sich ein Bild der persönlichen
Verbindungen, die alle drei Frauen schon seit Jahren zu Wettengel haben.
Die Autorin wechselt zwischen Berichten aus der Gegenwart und Rückblenden in die
Vergangenheit. Im Lauf der Lektüre werden die Leben der Protagonisten
aufgerollt. Alle vier hatten mit tragischen Ereignissen zu kämpfen, mussten
Schicksalsschläge hinnehmen, Demütigungen erfahren, haben geliebt und Verluste
erlitten. Die Frauen versuchen, hinter das Geheimnis um Eduards verstorbener
Ehefrau Odila zu kommen. Doch keine von ihnen kann ahnen, in welchem Verhältnis
Eduard und seine Frau zueinander gestanden haben.
Karline Regenbein, die
Titelgeberin des Romans, vermag nach dem Tod ihres Mannes wieder Freude an der
Malerei zu entwickeln, nachdem sie frei von Habichs Anweisungen und Vorgaben
ihrer Eingebung folgend malen kann. Habich wird als narzisstischer, tyrannischer
Mensch geschildert, der Karline in die Abhängigkeit von ihm getrieben und ihr
künstlerisches Schaffen auf gewalttätige Art und Weise einengt hat. Eduard
Wettengel bietet Karline Regenbein bei einem der Treffen auf dem Friedhof an, in
seiner Galerie eine Ausstellung mit ihren Werken zu veranstalten.
Das verärgert Lore, die Karlines Werke gern exklusiv in ihrer Industriellenvilla
ausgestellt hätte. Karline ist einerseits fasziniert von der Extravaganz Lores,
anderseits ängstigt und verunsichert diese sie auch zutiefst.
Im weiteren Verlauf entsteht ein Reigen aus Geheimnissen, Eifersüchteleien und Intrigen.
Karline beschließt, die drei Frauen und Wettengel in einem großen Bild zu
verewigen. Dieses Werk soll den Abschluss ihres Schaffens darstellen. Als
Karline das vollendete Gemälde Eduard und Lore präsentiert, zeigen sich die
unerwarteten und zum Teil auch durchaus verstörenden Auswirkungen, die das Bild
auf die Dargestellten zu entwickeln vermag. Die Vernissage gerät zum Desaster,
letztlich erfüllen sich Karlines Träume aber doch noch. Das Ende der Erzählung
bringt allerdings vorwiegend für Karline eine positive Entwicklung, die anderen
Figuren bleiben in ihren Situationen verhaftet.
Kerstin Hensel schreibt in
knappen, pointierten Sätzen, das Tempo der Novelle ist trotz des hohen Alters
der Protagonisten oft beeindruckend. Die Autorin stellt interessante Figuren mit
ihren Lebensgeschichten ins Zentrum ihres Werks, umkränzt von Einblicken in die
Welt der Fotografie.
Fazit: Eine tiefgründige, mit feinem Humor
geschriebene Novelle, die einige menschliche Abgründe aufzeigt und trotz
melancholischer Grundstimmung dem Leser immer wieder ein Schmunzeln entlocken
kann.
(Alexandra Gölly-Liebich; 03/2020)
Kerstin Hensel: "Regenbeins Farben"
Luchterhand, 2020. 253 Seiten.
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Kerstin Hensel wurde 1961 in Karl-Marx-Stadt geboren. Sie studierte am Institut für Literatur in Leipzig und unterrichtet heute an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch". Bei Luchterhand sind zuletzt erschienen: die Liebesnovellen "Federspiel" der Band "Das verspielte Papier - über starke, schwache und vollkommen misslungene Gedichte" sowie der Lyrikband "Schleuderfigur". Kerstin Hensel lebt in Berlin.