Jiří Kratochvil: "Die niederträchtige Boshaftigkeit des Seins"
Jiří Kratochvils Roman ist zwar nicht sein
bislang letztes erschienenes Buch (es folgten bereits die Groteske "Bakšiš, 2018 bei "Větrné mlýny" erschienen, und 2019 "Liška v dámu"), was gleich zum Anlass für den
Hinweis genommen sei, dass nicht nur die beiden genannten, sondern
etliche weitere Bücher dieses bedeutenden, ziemlich originellen und
dabei sehr leserfreundlichen Schriftstellers noch der Übersetzung ins
Deutsche harren), dennoch ist "Die niederträchtige Boshaftigkeit des
Seins" gleichsam taufrisch (der Roman erschien 2017 in Brünn,
spielt zur einen Hälfte in der Gegenwart des zweiten Jahrzehnts
nach der Jahrtausendwende (die auffallend häufigen Verweise auf
britische Schriftsteller sind vermutlich auf den Ausgang des dortigen
Referendums vom 23. Juni 2016 zurückzuführen, als befürchtete der Autor,
Sterne,
Defoe et al. könnten schon bald nicht mehr auf den Regalen der
tschechischen Buchhandlungen thronen und auch sonst nicht mehr
erhältlich sein), zur anderen in der Zeit vom Advent 1951 bis etwa
Ende Februar 1952, mithin in einer eher düsteren Periode, die
Kratochvil, damals ein gerade Zwölfjähriger, dennoch so sehr fasziniert
haben muss, dass er in seinen Büchern immer wieder auf sie zurückkommt,
beispielsweise vor nicht allzu langer Zeit in seinem (dementsprechend
eher düsteren) Roman "Das Versprechen des Architekten".
In jenem Roman spielte übrigens ein gewisser Dan(iel) Kočí, Brünner Privatdetektiv, eine wichtige
Nebenrolle, der nun in "Die niederträchtige Boshaftigkeit des Seins" zu einer gleich doppelten Hauptfigur wird: in der Gegenwart
als bereits hochbetagter, von einer Pflegerin namens Olga betreuter
Mann und mehr als sechzig Jahre früher als junger, hochbegabter, ganz
auf Ehebrüche spezialisierter, dabei ironischerweise gerade selbst in
einer anrüchigen Beziehung steckender Privatdetektiv. (Und da schon von
Querverweisen die Rede ist: in diesem Roman hier wird eine Schlüsselszene aus Kratochvils Roman
"Der
traurige Gott" aus den neunziger Jahren unvermutet aus gänzlich
anderer Perspektive abermals gezeigt.)
Ist Dan mit Olga allein, schwelgt er gern in Erinnerungen und erzählt der pfiffigen, an allen Arten von Menschenschicksalen
interessierten Pflegerin von
allerhand interessanten früheren Fällen, erhält er jedoch den Besuch
seines Sohnes Adam (dessen Mutter sich bald nach seiner Geburt, wie es
heißt, mit ihrem Liebhaber ins Ausland abgesetzt hat), wird auch vor
Diskussionen über aktuellere und brutalere Fälle nicht zurückgeschreckt,
handelt es sich bei dem Sohnemann doch um einen Spezialisten für Mord,
privat zwar, doch mit dem Recht, zu verhaften, ausgestattet. Der Mord
allerdings, mit dem der Roman einsetzt, wirkt auf besondere Art
verstörend auf den abgebrühten Adam (eine unter die Zimmerdecke
geschnallte Frauenleiche, keinerlei Spuren), ein finsterer und
monströser Fall, wie er befindet, als dienten die nicht ausbleibenden
unausweichlichen Fernsehbilder der Leiche als geheime Botschaft in
irgendeiner Zeichensprache. Wie ein Symbol für eine böse Wendung
erscheint ihm das Zeichen, und für ihn selbst scheint das schon einmal
zuzutreffen: der Fall wird ihm rasch entzogen (was den Sturschädel, von
seinem treuen Assistenten unterstützt, jedoch nicht von weiterer
Nachforschung abhält), und die neu zugewiesenen Fälle entpuppen sich
ebenfalls als von einiger Abgründigkeit.
Begleitet werden Adams
kriminalistische Recherchen von einer plötzlich ausbrechenden endogenen
Depression, so jedenfalls die fachmännische Diagnose, seines alten
Vaters. Durch das äußere Geschehen aufgewirbelt, gelangen nämlich
tiefverborgene Erinnerungen in Dan an die Oberfläche und werden
virulent, eine ganz spezielle in Form einer makabren Fotogalerie
hat er freilich in seinem Wohnzimmer ohnehin ständig vor Augen. Olga
pflegt, Adam besucht, und es entwickeln sich ausgiebige Gespräche
zwischen den Dreien (und einmal mit einem befreundeten
konzeptualistischen Psychotherapeuten) über die alten Zeiten, über die
zwei heimtückischen Geschlechter, welche Männer und Frauen sind, und
über die Ausgeburten des Zeitgeists, wobei Letzteres durchwegs als
eine tschechische Variante von Klage und Empörung über Niedergang und
Werteverlust verstanden werden kann. Nun sind von Romanpersonen
stammende Aussagen immer in Beziehung und daher mit
besonderer Vorsicht zu interpretieren, erst recht in
innertschechischen Angelegenheiten, gesagt sei indes, dass weite Teile
der Bevölkerung der "Sehnsucht nach Knechtschaft" geziehen, die Herrschenden mit wenig
schmeichelhaften Ausdrücken bedacht werden, Adam wiederum in seiner
Besorgnis, Letztere würden das Land noch aus NATO und EU (oweh, beide so
unbedarft in einem Atemzug) führen, den schlechtgefilterten Konsum von
Oppositionsmedien zu verraten scheint. Der Autor lässt den armen Adam
dem Klischee vom übelwollenden Russen und im weiteren einer
regelrechten Paranoia anheim fallen, welcher er erst eine literarische ("Invasion mit menschlichen Antlitzen"),
gegen Ende des Romans eine absurde Wendung gibt, indes bei alledem sein
eigenes großes Unbehagen mit der im Hintergrund porträtierten Zeit und den politischen Entwicklungen in der
Tschechischen Republik, der wachsenden Korruption, Brutalität,
Intransparenz und Überwachung sehr deutlich spürbar ist.
"Das Krimimotiv sagt etwas über diese Zeit aus, in der kriminelle Elemente bis in die
obersten Etagen greifen und auch die Medien bereits fast alle in ihren
Diensten stehen, in der ein Umbruch, der das Land wieder zurückwirft und
alles unter sich begräbt, wofür wir eingeknastet waren, zum Greifen nahe
ist."
Das meint eine weitere Romanfigur, ein in dem Roman auftretender Übersetzer im Gespräch mit einem befreundeten Schriftsteller namens
Šavel, welcher letzterer gerade an einem Roman mit dem Arbeitstitel "Die niederträchtige Boshaftigkeit des Seins" schreibt.
Eine höchst auffällige Anspielung auf Kunderas
Roman. Der allerdings für seine philosophische Untermauerung
bekannt ist, während Šavels Roman sich (auch unter der niederträchtigen Sonne der Boshaftigkeit) nur an den
armseligen Wiesengründen unserer Leben weidet.
"Šavel wollte sich jedoch damit nicht zufriedengeben, nur darzustellen, was
unmittelbar auf den Fall des kommunistischen Totalitarismus folgte,
nämlich diese niederträchtige Zwiespältigkeit der Wirklichkeit, in der
die berauschende Euphorie der ersten Freiheitsjahre als Paravent
diente, geeignet um das wilde Fressen gieriger Termiten züchtig zu
verdecken. Šavel aber zielte mit seinem Roman viel weiter" heißt es, indem er nämlich
außerdem versuchte, die Geschichte vom Herrn des Netzes, des Herrn Netupan, zu
erzählen, der, sobald er im Internet auftauchte, sofort damit begann,
Lüge und Wahrheit zu verdrehen, alle Werte zu entwerten, "alles
zu nivellieren, dass ihm die Massen bald zujubelten wie ihrem
Fußballteam." Dieser Netupan, selbst nicht greifbar, "war für
seine Taten nicht verantwortlich und konnte sich alles erlauben und fing die
manipulierbare Mehrheit in seinem Netz und negierte die Existenz einer
nicht manipulierbaren Minderheit", langte mit wachsender
Macht ins Parlament und in die meisten Medien, verwandelte "alles
in wertlose Klunker und bereitete uns mundgerecht vor für irgendeinen
Moloch oder Leviathan". Soviel zum Herrn des Netzes, dem
Herrn "Ich bin nicht da", wie man den Namen mit alttestamentarischem
Beigeschmack übersetzen könnte, dieser fixen Idee Šavels, die zur
Ausführung allerdings mindestens noch der Konsultation eines
Internetexperten bedürfte sowie eines ruhigeren Privatlebens, denn
dieses drängt sich bald ziemlich in den Vordergrund. Was nun Milan Kundera betrifft, kann, wenn man die Lust Jiří Kratochvils am Versteckspiel, am
Spiel überhaupt kennt, nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei einer kleinen offenen Bosheit, die er sich gegenüber
dem elf Jahre älteren ehemaligen Brünner Schriftstellerkollegen (ähnlich auch gegenüber dem in Tschechien noch bekannteren Karel Čapek
erlaubt, nicht um seine einzige Bezugnahme handelt. "Aber wir müssen endlich zur Kenntnis nehmen, dass auch die Besten unter uns
fette schlechte Gewohnheiten haben." Und ein weiterer
auftretender Schriftsteller, erfolgreicher Verfasser heißgeliebter
Kitschromane, rundet nebst einem Verleger und einem (vom Autor übrigens
brutal hingemetzelten) Lektor das wichtige Nebenthema (und teils Metathema)
ab: Schreiben und Schriftstellerverhalten in schwierigen Zeiten, Schreiben
für die Kunst bzw. für den raschen Erfolg.
"In der Gesellschaft eines gebildeten, sprechenden Kaninchens ist die Welt nicht
mehr ganz so verzweiflungswürdig."
Auch der Anfang der
Fünfzigerjahre in Brünn wird nicht gerade als schöne Zeit
beschrieben: die Lebensmittel sind noch immer rationiert, es herrscht
Armut, vielfach verstärkt durch das ökonomische Experiment des
Sozialismus, wie es heißt. Um insbesondere die Bevölkerung nicht zu sehr
gegen sich aufzubringen, duldet die kommunistische Regierung die Haltung
von Hühnern und Kaninchen auf den Balkonen der Stadtbewohner, und auf
einem dieser Balkone, dem der 17-jährigen Rozmališka und ihrer Mutter Aněta, mit drei auf ihre Rolle bei der
Weihnachtsfeier wartenden Kaninchen, hebt die spirituelle Geschichte
eines geheimnisvollen Werdens an, eines veritablen Kaninchenwunders von
ihm selbst erzählt, eine Geschichte, die sich durch Erinnerungen,
Personen, Absichten, Träume, Motive, Bilder, Ideen und abwechselndes
Erzähltwerden vielfach mit jener aus der kriminalistischen Gegenwart
verbindet. In der ersten Person wendet sich ein
einstweilen noch namenloses Kaninchen an den Leser, berichtet von
seinen Betrachtungen der nächtlichen Sterne, vom Bad in ihrem
klaren, reinen Licht, von seinen Träumen ("Ich
habe
nämlich so viele Träume wie eine Sanduhr Sandkörner und sinne dann
gern über diese Traumkörnerchen nach. Jedes von ihnen birgt eine
lebendige Geschichte. Einige davon erzähle ich vielleicht noch."),
von seinen Mitkaninchen 'Schopenhauer' und 'Planck', mit denen es, wie
übrigens mit vielen Kaninchen, die Vorliebe für die geistigen Schätze
der Menschen, derer diese selbst nur allzu oft nicht wert sind, teilt
und sie sammelt, von der schier unglaublichen Bildung, die es sich bei
seinen heimlichen Ausflügen ins Wohnzimmer angeeignet hat, von der
Besessenheit, sich nicht mit seinem drohenden Schicksal
zufriedenzugeben, vielmehr und bei aller Furcht, dahinter könne, wovor
ja selbst die Bescheidensten nicht gefeit sind, ein unschönes Stück Stolz
stecken, sein Heil in Verzehrtwerdensvermeidung und im weiteren in
der Suche nach sich selbst und der eigenen Bestimmung zu finden. Mit Hilfe Rozmališkas gelingt die
Flucht, und das Kaninchen landet vorerst bei deren Großtante Eva
Kosinová, die als leidenschaftliche Vegetarierin und Verfasserin
äußerst beliebter Kitschromane gilt (und ebenso wie Adam Kočí der Zeit
nicht im selben Ausmaß wie die anderen unterworfen scheint), allein
besondere Umstände wollen es, dass das Kaninchen nie länger in der
Obhut eines Menschen verbleibt, vielmehr von Tierfreund zu
Tierfreund (auch Dan, wo es unter anderem Gelegenheit findet, "quälendes
Selbstmitleid und beleidigte Bitterkeit in potenzierter Form zu
erleben, also Gefühle, von denen ich aus Ottos Konversationslexikon
wusste, dass die Menschen sie irrsinnig schätzen und in verschiedene
melancholische und dekadente Formen hüllen.") weitergereicht wird und im Zuge dessen immer tiefere
Einblicke in die menschliche Natur erhält. Nach und nach keimt in ihm
das Gefühl einer Sendung, "einmal in
einem Meer von Jahren erscheint unter den Kaninchen ihr Prophet",
bekommt es von einem weisen ehemaligen Dompteur zu hören, und die Idee
der Jakobsleiter trägt es ohnehin schon geraume Zeit, seit es nämlich
hinter dem einen halb abgebissenen Ohr 'Schopenhauers' den tractatus
logico-philosophicus gelesen hat (und taugt Wittgenstein, wenn man sich nicht an
seinem Perfektionismus stößt, nicht als Bescheidenheits- und
Demutsfilosof?), mit sich. Nachdem es
verschiedene Abenteuer erlebt hat, mit einigen Menschen in Berührung
gekommen und endlich auch auf seinen Namen gestoßen ist, verlaufen
sich seine Spuren im spätwinterlichen Schnee einerseits, in den
Träumen und Gedanken der von ihm angerührten Menschen andererseits.
Mit dem alten iberischen Sprichwort "Gott schuf Mann und Frau,
weil er Geschichten liebt." wird ein weiteres wichtiges Motiv
des Romans angeschlagen, die Liebe mit all ihren Gruben und
Fallstricken, Höhe- und Tiefpunkten, und mit Fallbeispielen, die zwar
dank des seinerzeitigen Berufs von Dan Kočí einer saftigen, wenn auch recht
einseitigen Wiese mit manch tödlichem Gräslein ("Das männermordende
Monster" titelt das fünfte von zehn Kapiteln) entstammen. Sehr deutlich
ausgefallen ist diesmal die Konzeptualisierung von Wirklichkeit als
einer kaum privilegierten gegenüber unzähligen anderen
Möglichkeitsfalten, wenn auch mit einer vielleicht etwas zu
pädagogischen Note im Bemühen des Autors, einem das Vegetariertum
schmackhaft zu machen. "Die niederträchtige Boshaftigkeit des Seins" ist
ein Roman genau darüber, was der Titel besagt, über die
Zusammenhänge des Seinszustands mit menschlichem Tun und Lassen und über
mögliche Auswege, zum Beispiel weniger Fleisch zu essen, sich in Bescheidenheit, Demut und geistigen
Beschäftigungen zu üben, das fünfte Gebot ernster zu nehmen und einem in
den Schoß gefallene Freiheit in Anspruch zu nehmen und zu verteidigen,
andernfalls sie schnell zum Danaergeschenk werden kann. Vielleicht nicht
Kratochvils allerinspiriertester, aber ein sehr beseelter Roman.
(fritz; 04/2019)
Jiří Kratochvil: "Die niederträchtige Boshaftigkeit des Seins"
(Originaltitel "Jízlivá potměšilost žití")
Aus dem Tschechischen von Kathrin Janka.
Braumüller Verlag, 2019. 240 Seiten.
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Leseprobe:
(...) Und damit sind wir beim Stein des Anstoßes, bei der doppelten
Enttäuschung, die ich sowohl meinem Vater als auch meinem lieben Freund
und Mitschüler bereitete. Mein Vater, der mich in sein ehrliches
Handwerk eingeweiht hatte, war zweifellos geknickt, als er merkte, dass
ich anstelle von Mördern nur untreue Frauen, Ehebrecherinnen, treulose
Tomaten und falsche Schlangen verfolgte. Er hat mir das nie so direkt
gesagt, sah es aber höchstwahrscheinlich als eine gewisse Herabwürdigung
seines Handwerks an. Und ebenso geknickt war mein guter Freund, dessen
Handwerk nun nicht mehr nahtlos an das meinige anknüpfte, darüber, dass
wir nicht zusammenarbeiten konnten wie am Fließband und dass die Köpfe
dieser falschen Schlangen nicht unter der Guillotine zu seinen Füßen
rollen oder in der Schlinge über seinem Kopf enden würden, weil es keine
Mörderinnen waren, sondern nur untreue Seitenspringerinnen, die bei uns
weder gehängt noch guillotiniert werden.
Dan schwieg jetzt. Wahrscheinlich dachte er noch einmal an die
Enttäuschung, die er seinem Vater und auch seinem Freund bereitet hatte,
und empfand nun vermutlich ein doppeltes, nagendes Schuldgefühl: dass er
sich so an ihnen beiden versündigt hatte.
Da meldete ich mich zu Wort, um seinen Gedanken eine andere Richtung zu
geben.
Was ist denn, Pelztier?, fragte er.
Ich glaub, ich hab’s, ich hab es raus. Ich weiß jetzt, wie du mich
nennen kannst. Ich könnte zum Beispiel Louma heißen. Das würde glaube
ich passen.
Was?
Ja, Dan, du kannst mich ab sofort Louma nennen.
Mir scheint, es ist dir ernst. Aber an deiner Stelle würde ich es mir
noch mal überlegen. Keine Hektik. Ich würde mich vor einem solchen Namen
fürchten. Er könnte leicht dazu führen, dass du verbiestert wirst und
loumifizierst.
Oh, das war mir gar nicht klar. Loumifizieren würde ich tatsächlich
nicht so gern. Ich nehme es zurück. Louma passt doch nicht. Machen wir
doch weiter, all diese Fotos, die du hier an den Wänden hast ...
Alle diese Fotos, bis auf ein einziges, das ich verbrochen habe, aber
dazu kommen wir noch, alle Fotos wurden von ein- und derselben Person
aufgenommen, meinem Mitschüler Kazimír Mydlář. Kazimír hat mich einst
gefragt, ob er diesen Schatz bei mir aufbewahren kann. Weil er bei
seinem Wanderleben nirgendwo auf der Welt einen Ort hat, um seine
Fotogalerie sicher einzulagern. Denn es gehört zu seinem Handwerk, heute
da zu sein und morgen dort, er hat keinen permanenten Aufenthaltsort,
hält sich nirgends auf, bewegt sich durch die ganze Welt und taucht auf,
wo gerade ein Meisterhenker gebraucht wird, wo man ihn eben hinruft. Und
er schläft in Hotels, Motels, Pensionen, vielleicht auch mal in einem
abgestellten Eisenbahnwaggon, irgendwo an der Peripherie der Stadt, er
hat mir sogar gestanden, dass er einmal irgendwo am anderen Ende der
Welt in der großen Schublade eines alten Sekretärs geschlafen hat.
Woraus du schließen könntest, dass er nicht gerade von großer Gestalt
ist. Er war der Klassenzwerg bei uns, den ich oft beschützen musste, ich
habe mich für ihn geprügelt, ihn mit Faustschlägen und Tritten gegen
seine Angreifer verteidigt, sonst hätten unsere bösartigen Mitschüler
ihn in der Luft zerfetzt. Heute dagegen erweckt seine kleine Gestalt,
auf deren Konto sich einst alle amüsierten, tödliches Grauen, er ähnelt
einem Gnom aus einem bösen Märchen. Spürst du, wie zwiespältig sein
Wesen ist, wie polar sein Menschsein? Komischer Zwerg und grausiger Gnom
zugleich! Aber für mich bleibt er der gute alte Kazimír, den ich bei
jedem unserer Treffen umarme und mit dem ich immer was zu reden habe.
Die vierhundertsechsundzwanzig Fotos hier, das ist der aktuelle Stand.
Immer wenn er auftauchte, brachte er neue Fotos mit, rahmte sie
sorgfältig und hängte sie an die Wand. Das solltest du sehen, wie Zwerg
Kazimír hier über die Schränke und Wäschekästen turnt und immerzu seine
sorgfältig gerahmten Fotos aufhängt und probiert, ob die Nägel auch gut
halten. Denn letzten Endes ist es ja seine Henkerskrankheit, etwas
aufzuhängen, egal was, aber gründlich, professionelle Deformation.
Da fällt mir auf, unterbrach ich ihn, dass Kazimír ein ziemlich schicker
Name ist. Den könnte ich ja annehmen oder es wenigstens versuchen.
Ich sehe schon, du bist doch nur ein junges, verrücktes Kaninchen. Zu
meinem Mitschüler Mydlář passt dieser Name so wie die Schlinge zu einem
fünffachen Mörder, will sagen: echt schick, aber zu dir würde er passen
wie ein Rüssel zu einem Bestatter. Sei doch so nett und denk weiter
nach. Du wirst schon zur rechten Zeit auf deinen wahren Namen treffen.
Das wette ich. Aber wo war ich stehen geblieben? Ach ja, also genau das,
was den Vorzug dieser Bilder ausmacht, fachte meinen Widerwillen an, sie
tagaus, tagein an der Wand zu haben. Eine Sammlung solcher Fotoporträts
gibt es auf der Welt kein zweites Mal, ja, und sie bergen einen
besonderen Fluch. Sieht man sie zum ersten Mal, ist das sicherlich ein
außerordentliches Erlebnis, aber es ist nicht so, dass ich sie jeden Tag
vor Augen haben müsste ... Wäre Kazimír Mydlář, der Henker, nicht so ein
guter Freund von mir, hätte ich mich entschieden geweigert, mir die
Wände mit seinen Fotos vollzuhängen.
Aber woran liegt das denn, Dan? Sag doch, was haben die da alle im
Gesicht? Ist das beseligende Freude oder eiskalte Angst? Freuen die sich
riesig über etwas oder hat sie etwas fürchterlich erschreckt? Es ist
doch beides auf einmal da! Was für ein verwirrendes Rätsel. Ich wage zu
behaupten, dass es bei der Mona
Lisa genauso ist. Was die da alle im Gesicht haben, ist, wie mir
scheint, nichts, was man einfach irgendwo zu sehen kriegt. Höchst
merkwürdig, dieses Lächeln.
Ganz genau, Kaninchen. Das rätselhafte Lächeln ... Sein Geheimnis beruht
ja eben in dieser auffälligen Polarität: trunkenes Glück und dazu diese
eiskalte Angst. Die Koexistenz von beidem. Da haben wir vierhundertmal
die Mona Lisa an den Wänden, jedes Mal anders und doch jedes Mal gleich.
Die Mona Lisa der Hingerichteten, die Mona Lisa der Gehenkten. Nun, ich
erzähle dir, wie ich einmal selbst Zeuge dieses geheimnisvollen Lächelns
wurde. Oder mehr als Zeuge. Aber vorher ganz kurz zu Dostoevskij.
(...)