Lasha Bugadze: "Der erste Russe"
Georgischer
Geschichtsunterricht
"Der erste Russe" ist der dritte in deutschsprachiger
Übersetzung erschienene Roman des 1977 geborenen georgischen
Schriftstellers, der heute zu den wichtigsten georgischen Autoren
zählt. Nachdem er sich in den Vorgängerromanen mit
dem Literaturbetrieb ("Der Literaturexpress") und einem notorischen
Seitenspringer ("Lucrecia515") beschäftigt hat, widmet er sich
in diesem Roman der georgischen Geschichte des Umbruchs von der
Sowjetzeit ins neue Georgien.
Ausgangspunkt für diesen Roman ist eine Erzählung,
die der Protagonist, ein junger Schriftsteller, geschrieben hat. Darin
beschäftigt er sich mit der georgischen Königin
Tamara (1160-1213), genauer gesagt, mit ihrer nur kurz dauernden Ehe
mit dem Russen Juri Bogoljubski. Nachdem die Ehe kinderlos blieb, wurde
Juri nach Konstantinopel ausgewiesen. Dort sann er auf Rache, stellte
ein Heer zusammen, verbündete sich mit Tamaras Feinden in
Georgien und bemühte sich, so den Thron
zurückzuerobern. Tamara besiegte ihn und wurde zur georgischen
Legende. Sie modernisierte Politik, Kultur und Wirtschaft. Sie schuf
Gerichte, gegen deren Urteile bereits damals beim Obersten Gerichtshof
Einspruch eingelegt werden konnte. Die Abschaffung der Todesstrafe
ist
ebenfalls auf sie zurückzuführen, wie die Abschaffung
der gängigen Praxis der Verstümmelung von
Straftätern. Kirchen und Klöster wurden von ihr in
Auftrag gegeben, und die Zusammenarbeit mit dem Adelsparlament Darbasi
gipfelte darin, dass sämtliche staatlichen Proklamationen nur
noch nach Absprache verkündet wurden. Edelmut und
Ritterlichkeit sind die Eigenschaften, die alle Legenden um Tamara
beflügeln, der Mädchenname Tamara ist der am
häufigsten vergebene Name in Georgien, und auch der Flughafen
von Tbilisi trägt mittlerweile den Namen "Königin
Tamara". Wie man sich vorstellen kann, ist Tamara so etwas wie eine
Heilige, an deren Bild unter keinen Umständen
gerüttelt werden darf. Das verbietet schon der Nationalstolz
der Georgier.
In der satirischen Erzählung des Protagonisten steht die
Hochzeitsnacht des frisch vermählten Paars, in welcher der
unglückliche Russe seine ehelichen Pflichten nicht
erfüllt oder erfüllen kann, im Mittelpunkt. Tamara
lässt sich mit dem Segen der Kirche von ihm scheiden und wirft
den ersten Russen Georgiens aus dem Land. Der Patriarch der
georgisch-orthodoxen Kirche sieht hier eine Verunglimpfung Tamaras und
der Kirche, weil die Botschaft der Erzählung aus Nationalstolz
gründlich missverstanden wird. Er verlangt einen
öffentlichen Widerruf des Autors. Der Autor, seine Familie und
Freunde werden offen bedroht, eine Lawine des Grolls fegt über
sie alle hinweg. Dass Lasha Bugadze hier von seinen eigenen Erfahrungen
erzählt, macht das noch interessanter. Auch er hat in seiner
Jugend einen Roman über Tamara veröffentlicht, der zu
ähnlichen Reaktionen geführt hat. Besonders
ärgert den Autor, dass offensichtlich niemand die Geschichte
wirklich gelesen hat, weil sonst klar sein müsste, dass sich
sein damaliger Text nicht gegen die georgische Königin,
sondern gegen ihren russischen Gatten gerichtet hat, den er als
Versager darstellt, der in der Hochzeitsnacht, statt mit der
Königin, Sex mit einem Huhn hat.
Und so ist man im Georgien der ersten Jahre nach dem Zerfall der
Sowjetunion, zur Zeit des Bürgerkriegs, bis hin zur russischen
Invasion Abchasiens und Südossetiens. Bugadze zeichnet ein
interessantes Bild der georgischen Gesellschaft und Politik, er zeigt
die innige Verbindung zwischen Kirche und Politik auf und nimmt den
georgischen Nationalstolz humorvoll aufs Korn. Ein Nationalstolz, der
soweit geht, dass die Ablehnung einer Speise oder eines
Getränks bereits eine unverzeihliche Kränkung des
Gastgebers auslöst. Er zeigt, wie tief eingebettet Homophobie,
irrgeleitete nationale Identität und xenophobe Tendenzen auch
in der heutigen georgischen Gesellschaft sind.
So begleitet man den Protagonisten in seinen Erzählungen, die
bis in seine Kindheit zurückreichen. Bis hin zu seinem
dreiundzwanzigsten Lebensjahr wurde er von seinen Eltern als lobenswert
betrachtet. Nun, nach der Veröffentlichung der
Erzählung, tauchten Leute bei seinen Eltern auf, die ihnen
mitteilten, dass ihr Sohn nicht einmal mehr die Bezeichnung "verlorener
Sohn" verdienen würde. Warnungen, dass "heutzutage
so viele Menschen so leicht umgebracht würden"
hören sie ebenso, wie die Schuldzuweisung des Patriarchen
höchstpersönlich, dass sie ihren Sohn nicht
ordentlich erzogen hätten. Von einer Situation zur
nächsten eilt der Erzählfluss, deckt dabei die innere
Zerrissenheit des Autors auf, der sich zu einer wichtigen Entscheidung
durchringen muss.
Das ist größtenteils sehr unterhaltsam, auch wenn so
manche politische Exkurse den Lesefluss zu zerstören drohen.
Der Leser erfährt viel über den Weg Georgiens vom
Ende der Sowjetzeit ins neue Zeitalter des Turbokapitalismus,
über die Korruption der Politiker, die eigenartige Auslegung
von Moral der georgisch-orthodoxen Kirche und den Kampf um die Macht
zwischen Politik und Kirche. Auch wenn es keine offizielle Zensur mehr
gibt, werden politisch unliebsame Botschaften und Schriften
unterdrückt. Der Weg, über Fabeln und Legenden
Botschaften zu vermitteln, wird auch in Georgien zu einem wichtigen
Stilmittel der Künstler und Schriftsteller. Man kann diese
Herangehensform auf sehr unterschiedliche Art und Weise sehr gut auch
bei Autoren wie Otar Tschiladse, Goderdsi Tschocheli, Archil Kikodze
und Zaza Burchuladze beobachten. Dass es hier und da zu Längen
kommt, ist eher den Darstellungen diverser politischer Situationen und
Erklärungen geschuldet, die zwar aus literarischen
Gründen nicht unbedingt alle notwendig wären, zum
Verständnis des Romans allerdings immens beitragen.
"Der erste Russe" ist ein wunderbar von Rachel Gratzfeld und Sybilla
Heinze übersetzter Roman, der vor allem bei Lesern, die an der
Geschichte Georgiens nach der Wende interessiert sind, großen
Anklang finden wird. Ein Roman, der sich am Ende aber auch ein wenig
wie ein wirklich umfassend zelebrierter Geschichtsunterricht
anfühlt.
(Roland Freisitzer; 02/2019)
Lasha
Bugadze: "Der erste Russe"
Aus dem Georgischen von Rachel Gratzfeld und Sybilla Heinze.
Frankfurter Verlagsanstalt, 2018. 574 Seiten.
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