Jiří Kratochvil: "Unsterbliche Geschichte oder Das Leben der Sonja Trotzkij-Sammler oder Karneval"
Man
soll nicht ohne das Gesamtwerk zu kennen über bisherige
schriftstellerische Höhepunkte schwadronieren, wie man des
Bären Fell nicht ohne dessen ausdrückliche Billigung
verteilen soll.
Ein besonderer Höhepunkt im reichen Schaffen des
Brünner Schriftstellers Jiří Kratochvil ist der
wundersame Roman "Unsterbliche Geschichte oder Das Leben der Sonja
Trotzkij-Sammler oder Karneval", eine lieblich glänzende Perle
tschechischen Humors, ein Aristourgem, ein erzählerischer
Leckerbissen ersten Ranges beziehungsweise - um die hohe
Originalität des Texts zu unterstreichen - sondergleichen.
1997 in Brünn erschienen, wurde das Buch im Jahr 2000 auf
Deutsch herausgebracht und von den wenigen Rezensenten sehr positiv,
allenfalls leicht verwirrt, aufgenommen. Verbreitet hat sich die Kunde
von diesem Meisterwerk allerdings bis heute nicht, sei es, dass sich
hierbei hemmend der seinerzeitige, fantastischen und absurden Elementen
wenig gewogene Geschmack ausgewirkt hat, sei es der sogenannte
Ostblockblick, die (damals begreiflicherweise noch stärker
ausgeprägte) Tendenz, osteuropäische
Künstler auf ihre Äußerungen zum
kommunistischen System und ihren jeweiligen Regimen zu reduzieren (und
allenfalls gleich für die eigenen Ziele einzuspannen, mit
leider weniger rückläufiger Tendenz).
Und freilich, auch das Leitmotiv mag ein Grund gewesen sein, dass
mancher Narr den Roman bald entgeistert zur Seite gelegt haben wird:
"Soll ich das so verstehen, Frau Sonja, dass Sie Sex mit
Tierchen haben?
Sie werden doch keinen Anstoß daran nehmen, mein Engel?
Ovidius Naso hat doch nicht nur die Ars amatoria geschrieben, sondern
auch die Metamorphosen, die ja wohl auch von so
etwas handeln. Aber in
Wirklichkeit ist es natürlich so, daß Bruno und ich
uns stets darüber im klaren sind, daß er nur in
diesen Tierchen steckt wie eine Hand im Handschuh."
Sonja und Bruno sind ein einander vorbestimmtes Liebespaar, allein,
mächtig waltet das Schicksal, und schon wenige Tage, nachdem
Sonja um
die Mitternacht vom 31.12.1899 auf den 1.1.1900 in
Brünn
(wo sonst) geboren wird, kommt der
zwölfjährige Wiener Bruno Mlock bei einem
Donaueisunglück ums Leben. Da nun die Anziehungskraft der
beiden Wesen so enorm ist, Bruno jedoch in den nächsten
hundert Jahren (so alt und älter wird Sonja) keine menschliche
Wiedergeburt beschert ist, müssen die Liebenden einstweilig
damit vorliebnehmen, sich miteinander alle paar Jahrzehnte einmal mehr
oder weniger eilig und im freien Nasostil zu ungewöhnlicher
Paarbildung vereinigen zu können. So kommen denn der durchs
Brünn des zwanzigsten Jahrhunderts wandelnden Sonja der Reihe
nach (und so titeln auch die Hauptkapitel des Romans) der Schimpanse,
der Hirsch, die Wölfe, der Elefant und der Panther unter (oder
auch über). Kleine Richtigstellung: Brunos Seele
fährt zwischenzeitlich auch in Anderes, während sich
hinter einem der Wölfe nicht Bruno, allerdings der Vater von
Sonjas stolzem Sohn Martin verbirgt. Da sich hier mehr erotische
Details wie von selbst verbieten (ich sage
nur: Elefantenrüssel), sei noch verraten, dass sich der Roman
insgesamt durch großen Faunareichtum auszeichnet
(Gestapo-Haie, Arbeiterkader-Zecken und dergleichen
Scheußlichkeiten leider miteingeschlossen) und das ganze
Mensch-und-Tier-Thema schließlich in so etwas wie einer
kleinen feinen Fuge mit Krebs, in der vier Stimmen durcheinander auf
Tschechisch und Deutsch über Zoofilie und über die
Rentabilität riesiger Hühnerfarmen diskutieren,
ausklingt, und dies auch nur, sofern denn eine unsterbliche Geschichte
(in Expertenkreisen ist dies höchst umstritten)
überhaupt ausklingen kann.
Beinah gehört das sich erneuernde Ausschauhalten nach ihrer
unsterblichen Liebe Bruno zu Sonjas Privatvergnügen, denn im
Alter von
fünf, am Brünner Stausee spazierend, mit der
unbeantworteten Frage der Mutter nach dem Geburtsjahr von Thomas Alva
Edison im Ohr, wird sie plötzlich von einem Zeppelin aus, in
welchem sich manche der weisesten Menschen des langsam schwindenden
neunzehnten Jahrhunderts aufhalten, emporgezogen und von obigen
Weisen per Hypnose mit einer versiegelten Botschaft an die Menschen des
21. Jahrhunderts (und der etwas mühsam bewerkstelligten
Antwort "1847") ausgestattet. Die Botschaft betrachtet sie als ihr
angehängt wie einem Rennpferd die Startnummer, spekuliert
nur spärlich, "vielleicht ist der Inhalt der Botschaft nur
ein bedeutungsloser Gruß der Menschen vom Ende des
neunzehnten Jahrhunderts an die Menschen am Anfang des
einundzwanzigsten, nur ein Hallo, hallo und tschüss,
tschüss. Es könnte sich aber auch um eine wichtige
Mitteilung handeln, etwas, das man bis dato nicht laut aussprechen
kann
und das erst die Enkel unserer Enkel verstehen können." Hier
sei nur angemerkt, dass
- Auftrag hin oder her - auch auf den nicht so urenkelhaften Leser viel
Nützliches, Vergnügliches und Erhebendes in dem Roman wartet,
und dass Kratochvils Werk ein Oeuvre, ein vielfältig, über
Motive, Mythologie, manchmal auch Personen und nicht zuletzt die Stadt,
in der sich das Allermeiste abspielt, miteinander verbundenes
Gesamtwerk bildet und beispielsweise das Motiv des doppelten Auftrags
in "Gute
Nacht,
süße Träume", dort
aufgeteilt auf zwei Paare, variiert wird.
Teil des Auftrags ist klarerweise das blanke Überleben, was
der praktisch veranlagten, unverwüstlichen und
instinktsicheren Sonja ganz glänzend gelingt,
Schicksalsschläge, allen voran der Tod ihrer
doppelnameverursachenden Eltern, bleiben ihr natürlich nicht
erspart. Als Gudrun Sammler, raubeinige Brünner Deutsche, und
Lew Trotzkij, russischer Emigrant und alter Eisenbahner mit Leib und
Seele, beim Brünner Todesmarsch im Jahre 1945 ums Leben
kommen, geht Sonja nicht nur längst ihre eigenen Wege (hat
sich in der gerade zu Ende gegangenen Zeit des Protektorats auf eine
waghalsige gemeinsame Aktion des sowjetischen und britischen
Geheimdienstes eingelassen und steht kurz davor, den us-amerikanischen
Agenten Lowell kennenzulernen), sondern hat sich vor allem das,
wofür ihre Eltern standen, ein harmonisches Miteinander,
Kultur und Sprache (Gespräche zwischen den Dreien, wo zwischen
Tschechisch, Russisch und Deutsch hin- und hergesprungen wurde, waren
keine Seltenheit) zu eigen gemacht.
Kultur und ihre wichtigste
Trägerin, die Sprache, als Mittel gegen menschliche
Gemeinheit und die verschiedenen Ismen des zwanzigsten Jahrhunderts
sind unverkennbar ein großes Anliegen des Erzählers,
der einmal selber kurz und charmant das Wort ergreifend den Leser
über seinen eigenen Fall von schwerer Nationalismusvergiftung in
Kenntnis setzt.
Hätte er damals unmittelbar nach Kriegsende, als er,
Knäblein von fünf Jahren und fünf Monaten,
mit anderen Kindern, die ebensowenig wussten, was los war, durch die
Straßen zog und
"Bum bum auf die Gebeine, Germanen sind Schweine!" skandierte,
hätte er damals erfahren, dass er
großmütterlicherseits deutscher Herkunft war, "hätte
ich höchstwahrscheinlich einen kindlichen hysterischen Anfall
erlitten, wäre mit Schaum vor dem Mund auf den Boden gesunken
und hätte um mich geschlagen und getreten".
Ob Kratochvil im Konjunk- oder
Indikativ erzählt, erfindet, über Selbsterlebtes oder
Geschehnisse vor seiner Zeit berichtet, er (bzw. seine Sonja) nimmt
dabei anders und mehr wahr als das Übliche, im Wendejahr
1989 beispielsweise nicht nur Freiheit, Jubel und duftende
Topfenbuchteln, sondern auch die unmittelbar einsetzende Propaganda von
anderer Seite, von westlichen Journalisten organisierte Kinoabende, wo
sich das Publikum unwillkürlich synchron zu den gezeigten
Bildern vom Abriss der Berliner Mauer zu bewegen beginnt und dabei zu
einer einzigen Masse wird, bis der Veranstalter abrupt verkündet, "dass
nun
nach Deutschland, dem Wintermärchen, Rumäniens
blutiges Draculamärchen folgen würde",
aber erst eine kleine Bierpause.
Überhaupt ist es eine ganz
besondere Stärke Kratochvils, etwas von der Essenz des
historischen Augenblicks oder der Charakteristik einer Epoche oder der
Verfasstheit historischer Personen in einer kurzen, unscheinbaren Szene
auf engstem Raum und oft äußerst subtil mit feinen Details
und Schattierungen zum Ausdruck zu bringen. So geschehen beim
ersten Präsidenten der Tschechoslowakei, dem weithin
(zumindest unter Tschechen) beliebten
Filosofen-Präsidenten Masaryk ("Thomas G. M."), der zwar in
Summe sehr
sympathisch gezeichnet ist, aber auch Schwächen verrät
und bei einem seiner traditionellen Empfänge von
ausgewählten Staatsbürgern unterschiedlicher Herkunft und
Profession nicht nur
darauf schaut, dass er gut, sondern auch schnell wegkommt. Mit dem letzten
Präsidenten
des Landes
wird viele Seiten
später ähnlich verfahren, während der Schlachtruf,
der in den Neunzigern im
Janáček-Theater wider einen weiteren Präsidenten
(noch in Kanzlerfase, bereits in der Tschechischen
Republik) erschallt und ein gutes Jahrzehnt
später von der vereinigten veröffentlichten Meinung
der EU-Medien gar schaurig wiederholt werden wird (es ging um die
Ratifizierung des sogenannten Lissabon-Vertrags), recht deutlich
veranschaulicht, dass in diesem fantastischen Taumel durch die
tschechische
Geschichte letztlich die
prägenden
Kräfte des vergangenen Jahrhunderts
und die sich darin offenbarende menschliche Natur mit einiger Hellsicht
behandelt werden.
Ein Prager Rezensent wäre womöglich versucht,
Kratochvils Prosa wegen ihrer Blumigkeit und Sinnlichkeit als
orientalisch zu bezeichnen, ein Wiener wird sich hüten, nur wegen
der Leitmotivik gleich von nordisch zu sprechen (eher von
Leitlokomotivik). Magisch-realistisch,
postmodern,
Schelmenroman (die
deutschsprachigen Rezensenten von 2000 hatten möglicherweise
Hrabals "Ich habe den englischen König bedient" noch in lebhafter
Erinnerung), all dies mag schon etwas für
sich haben, unbedingt vonnöten ist es indes nicht.
Kratochvils Erzählkunst präsentiert sich
in "Unsterbliche Geschichte oder Das Leben der Sonja
Trotzkij-Sammler oder Karneval" voll Ironie, Humor, Fabulierlust (das
Ende des Baruch Spinoza fügt sich ebenso harmonisch ins Romanganze
wie - wieder das Unsterblichkeitsmotiv - die Verwandlung einer Frau in
ihre Tochter, ein RIss in der Transzendenz, ein verdampfender
Conducteur oder eine die schlimmen Jahre der Stagnation von 1976
bis 1988 höchst sonderbar verbringende Sonja), mit starkem
Symbolismus (ein
Schimpanse als Christusdarsteller, ein dem Kaiser
Franz Joseph das
"Gott erhalte, Gott beschütze" darbringender, aus verkleideten Insekten bestehender
Schülerchor etc.), ausdrucksstarken Bildern, für Kratochvil
typischen, nicht zuletzt allzu Pathoslastiges erdenden Vergleichen ("in
dem
smaragdgrünen Haar der umliegenden Wälder
erschienen auch schon herbstliche Blutstropfen, als flöge ein
riesiges Rebhuhn mit abgehacktem Kopf steil empor und
schüttelte sich über dem Waldbaldachin"),
großer sprachlicher Verspieltheit und einer
Überfülle an Ideen, Einfällen und Motiven,
die man bei einem Musiker einfach als Melodienreichtum bezeichnen
könnte.
In dem so dichten Werk wird schwerlich jede Anspielung, jede Nuance,
jeder Scherz, warum die Personen heißen, wie sie heißen,
wen Sonja da während der ganzen Erzählung mit "meine
Herren" oder so zärtlich "meine
Täubchen"
anspricht, auf Anhieb, wenn überhaupt, verständlich sein,
als Balsam bleibt - einmal noch Sonja Trotzkij-Sammler: "Ich
sage es immer wieder, das Bemühen, immer alles zu verstehen,
ist erbärmlich und verachtenswert."
(fritz; 12/2018)
Jiří
Kratochvil: "Unsterbliche Geschichte oder Das Leben der Sonja
Trotzkij-Sammler oder Karneval"
(Originaltitel "Nesmrtelný příběh aneb Život Soni
Trocké-Sammlerové čili Román Karneval")
Aus dem Tschechischen von Kathrin Liedtke und Milka
Vagadayová.
Ammann, 2000. 304 Seiten.
Buch
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Leseprobe:
(...) Einmal traf uns
Vaculíks
Freund, der Dramatiker Václav Havel, der gerade aus dem
Gefängnis entlassen worden war, bei dieser Arbeit an, er
schaute einen Moment mit schüchternem Lächeln zu, wie
geschickt wir schon pfropften. Dann sprach er den Agenten Lowell an:
Entschuldigen Sie bitte, Mister Lowell, was ich Sie, hm, immer schon
mal fragen wollte, Ihr Name, ist das Ihr richtiger Name oder nur ein
Name, den Sie, hm, bei einer Aktion benutzen?
Nur ein Name, den ich bei einer Aktion benutze.
Das dachte ich mir, hm. Und entschuldigen Sie bitte, aber hat dieser
Name etwas mit dem amerikanischen Dichter Robert Lowell zu tun?
Man kann sagen, daß er viel mit ihm zu tun hat. So wie man
Kriegsschiffe nach bedeutenden historischen Persönlichkeiten
benannt hat, nennen wir Agenten mit humanitärer Mission uns
nach bedeutenden amerikanischen Dichtern, die dann sogar eine Art
geistige Schirmherrschaft über unsere Aktion
übernehmen.
Das freut mich wirklich aufrichtig, glauben Sie mit bitte, antwortete
Václav Havel, weil ich gerade diesen Dichter, hm, sehr
schätze. Und ich gestehe -, daß ich ein Gedicht von
ihm sogar, hm, auswendig kenne, leider aber nicht direkt im Original,
sondern, hm, nur in der Übersetzung.
Darf ich Sie bitten, es mir vorzusagen? fragte Lowell.
Hm, ich bin kein Rezitant, ich habe zahlreiche Mängel in der
Artikulation und werde dem Gedicht sicher schaden, ich bin mir aber
auch bewußt, daß ich mich jetzt, nachdem ich es
hier quasi angekündigt habe, nicht mehr, hm, aus der
Affäre ziehen kann.
Und Václav Havel stellte sich unter Vaculíks
Apfelbaum und machte eine ganz leichte, hm, Verbeugung:
Robert Lowell
Worte für ein Meerschweinchen, genannt Buchtel
In letzter Zeit wird das Licht im Flur nicht gelöscht,
damit ich keine Angst habe, aber ich habe keine Angst vor der
Dunkelheit,
sei gegrüßt, du von der Wand zum Fenster fliegender
Pfeil ...
Fünf Jahre und Licht ward mir zum Leben gegeben ...
Heidegger sagte, der Rest sei Ekstase ...
Mein Leben ist kurz, aber ich fürchte mich nicht,
mein schwerer Atem klingt wie trockene Haut.
Buchtel! Das sitzt. Ich hab' was durchgemacht.
Man wird mich wie Cromwell malen, mit jeder Warze:
ein kleiner Mop mit Beule, die Augen so hervortretend, daß
leblos.
Als die Söhne auf mir hüpften, hatte ich ein dickes
Fell.
Ich aß, vermehrte mich, dann aß ich nur noch,
mein Leben stand im Zenit, als Lyndon Johnson regierte ...
Gott wog mein schlechtes Pfund und befand es für leicht.