Juli Zeh: "Leere Herzen"
Düstere
Zukunft - oder doch Gegenwart?
Wer bereits Juli Zeh gelesen hat, weiß, dass diese Autorin
sicherlich keinen intellektuell überfrachteten, in unlesbar
spröder oder blumiger Befindlichkeitsprosa erstickenden Roman
abliefern wird. Zumindest kann
man sich das nicht vorstellen. Nach dem Gesellschaftsroman "Unterleuten"
folgt nun "Leere Herzen", der am ehesten als literarischer Polit-Thriller,
oder auch als Dystopie bezeichnet werden könnte. Von diverser
Genreliteratur unterscheidet sich Juli Zehs
Roman allerdings deutlich, in erster Linie deshalb, weil
das jeweilige Genre nur als Mittel zum Zweck dient. Die Aussage dieses
äußerst spannenden Romans braucht nämlich
den Spannungsmoment, um ideal transportiert werden zu können.
"Britta macht sich nichts vor. Sie glaubt nicht, die
Entwicklungen zu verstehen, und versucht nicht, etwas besser zu
wissen.
Sie wohnt in einem sauberen Haus in einer sauberen Stadt und
führt ein sauberes Unternehmen. Das ist ihr Beitrag. Vor
langer Zeit, noch vor Gründung der Brücke, hat sie
einmal einen Satz gelesen, der sich ihr eingeprägt hat: Moral
ist Pflicht für die Schwachen, die Starken beherrschen die
Kür."
Wir befinden uns im Jahr 2025 in Deutschland, das ja, egal, wie
entfernt es klingt, nur ganze acht Jahre von heute entfernt ist.
Gekonnt führt Juli Zeh ins Geschehen, indem sie das Paar
Janina und Knud Britta und Richard besuchen lässt. Die beiden
Töchter spielen gemeinsam im Kinderzimmer "Mega-Melanie,
ein mehrstöckiges Plastikungetüm, das über
WLAN, mehrere Displays und programmierbaren Soundtrack
verfügt."
Die beiden Paare könnten unterschiedlicher nicht sein, Janina
und Knud sind auf der Suche nach einem fern vom Trubel gelegenen
Häuschen, günstig und ohne Schnickschnack. Britta und
Richard sind das personifizierte Yuppie-Paar,
allerdings ist es Britta, die mit ihrer Firma "Die Brücke",
die sie gemeinsam mit ihrem Geschäftspartner und Freund Babak
Hamwi leitet, sehr gut verdient und somit das Familienbudget stellt. Am
Ende des Abends erfahren sie in den Nachrichten von einem
Selbstmordanschlag am Frachtgelände des Leipziger Flughafens.
Die dilettantische Ausführung dieses Anschlags löst
eine Ereigniskette aus, die diesen Roman in Bewegung setzt.
Geschickt lässt Zeh hier ihre Leser zunächst
über die Tätigkeit von Brittas Firma im Unklaren, so
wie sie auch die restlichen Informationen beiläufig, im Zuge
des Geschehens quasi, Stück für Stück
freigibt. So hat man nach einiger Zeit ein ziemlich tristes Bild der
fiktiven Jetztzeit (die ja 2025 ist) vor sich. Die BBB, also die
"Besorgte-Bürger-Bewegung", hat nach demokratisch abgehaltenen
Wahlen die Bundeskanzlerin gestellt, die Angela Merkel in den Ruhestand
geschickt hat. Die Politik redet von Effizienzpaketen, man ist bereits
beim 5. Effizienzpaket angelangt, und die Sicherheitsvorkehrungen und
persönlichen Rechte der Bürgerinnen und
Bürger Deutschlands sind längst nicht mehr das, was
sie einmal waren. Frexit, Free Flandern
und Katalonien First! sind erfolgreich gelaufen,
und Trump hat mit Putin gemeinsame Sache gemacht und den Krieg in
Syrien beendet. Alles ist so gut gelaufen, dass man sich jetzt um die
Finanzhygiene kümmert.
"Natürlich bauen die Besorgten Bürger eine
demokratische Errungenschaft nach der anderen ab. Aber trotzdem geht
es
den Menschen gut, vielleicht sogar besser als früher. Bei
Trumps Amtsantritt sprach man vom Untergang des Abendlands, und dann
hat er nach seiner Verbrüderung mit Putin ganz nebenbei den
Syrienkrieg beendet."
Wie sich herausstellt, ist Brittas "Die Brücke" eine Firma,
die sich um die methodische Auffindung und Heilung von potenziellen
Selbstmördern kümmert. Die Kandidaten werden nach
ihrer suizidalen Ernsthaftigkeit bewertet, nach einem System, das Babak
aufgrund von bisheriger Erfahrung ausgearbeitet hat. Durch ein hartes Screening,
das unter Anderem
Waterboarding beinhaltet, werden die Kandidaten
geprüft. Jene, die scheitern, sind de facto von ihrem
Suizidwunsch geheilt, jene, welche die Tests bestehen, werden
allerdings an seriöse Organisationen vermittelt, für
die sie im Dienst einer wichtigen, ehrenvollen und sinnvollen Sache ein
spektakuläres Selbstmordattentat
verüben
dürfen.
Durch das sinnlose vereitelte Attentat am Leipziger Flughafen erfahren
Britta und Babak, dass es offenbar ein Konkurrenzunternehmen gibt, das
noch dazu schlampig arbeitet. Sie bemühen ihre Kontakte im Darkweb,
sowie bisherige Auftraggeber, versuchen verzweifelt herauszufinden, wer
dahinter steckt. Gleichzeitig meldet sich bei ihnen eine junge
hübsche Frau, die sich mit suizidalen Absichten an sie wendet.
Das kommt im Moment ungelegen, außerdem haben sie keine
Erfahrungen mit Frauen. Julietta lässt sich aber nicht
abwimmeln und besteht alle Prüfungen nach ihrer Aufnahme ins
Testverfahren.
Interessanterweise findet Richard endlich einen etwas dubiosen Investor
für seine Firma, der dazu drängt, die
familiären Verhältnisse zu verschieben.
Nun, da Richard plötzlich Erfolg hat, soll sich Britta etwas
zurückziehen. Und dann überschlagen sich die
Ereignisse, denn Britta und Babak erkennen nur allzu rasch, dass
diejenigen, die dahinter stecken, vor Gewalt nicht
zurückscheuen. Sie fliehen gemeinsam mit Julietta in die
verkommene Hütte, die Janina und Knud mit Brittas Hilfe kaufen
wollen. An dieser Stelle lenkt Juli Zeh auch in die Spuren eines
psychologischen Entwicklungsromans um, weil Britta in der
Einöde, ohne Mobiltelefon, Netzzugang oder Uhr gezwungen ist,
über Sinnhaftigkeit und Ethik, Moral und das Leben per se
nachzudenken. Und was dann passiert, soll keinem Leser vorweggenommen
werden.
Juli Zeh hat mit "Leere Herzen" einen wirklich spannenden,
überdrehten aber doch sehr ernsten Roman geschrieben, der
passionierten Thrillerlesern wahrscheinlich in
vielen Punkten nicht schmecken dürfte, denn eigentlich geht es
hier um viel mehr als die Aufklärung der
Hintergründe. Die 1974 in Bonn geborene und mehrfach
preisgekrönte Autorin zeigt eine Gesellschaft, die durch
Konsum,
Medien und die politische Entwicklung
gefühlsmäßig abgebaut hat, die gewisse
Dinge achselzuckend zur Kenntnis nimmt und jegliche Notwendigkeit zum
Protest längst als Unding abgetan hat. An einer Stelle im Buch
heißt es: "Es gibt tatsächlich immer noch
Menschen, die so tun, als könnte man dieser durchgedrehten
Welt mit Haltung begegnen."
Zehs Visionen, die ohne moralisierenden Zeigefinger diese auf den
ersten Blick abstruse Geschichte antreiben, sind, das muss man im
Verlauf dieses großartigen Romans leider feststellen,
letztendlich gar nicht einmal so abwegige Vorstellungen. All das, was
hier in einer fiktiven Welt zur Norm geworden ist, ist heute bereits
auf die eine oder andere Art und Weise auf dem Weg in die
Normalisierung. Hinter einer fiktiven Partei wie der BBB
könnte man, wenn man wollte, einige vorhandene Parteien und
Bewegungen vermuten, auch wenn jegliche Ähnlichkeit
natürlich reiner Zufall ist ...
Schlägt man am Ende schweißgebadet die letzte Seite
zu, ist man gerädert. Von einer erzählerischen
Dynamik, wie man sie nur selten findet. Von einer Geschichte, deren
Oberfläche allein schon irrsinnig spannend ist. Und noch mehr
von all dem, was da zwischen den Zeilen im Raum steht. Und das wirkt
noch lange nach ...
(Roland Freisitzer; 11/2017)
Juli
Zeh: "Leere Herzen"
Luchterhand, 2017. 348 Seiten.
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