Michael Stavarič: "Gotland"


Guter Gott!?! Zwischen religiöse Bilderwelt und Psychose zwängt sich das Leben eines jungen Mannes

Wo endet "gut"? Wer oder was ist "Gott"? Trotz der Paronomasie ist dieses "Gotland" sicher kein Gutland, nie und nimmer ein Gottland. Wem jetzt auch noch Mariusz Szczygiełs Reportagenband "Gottland" mit bizarren Texten über Karel G. und Michael Stavaričs frühere Heimat Tschechien einfällt, ist der Rezeption des Romans schon einen Assoziationsschritt näher - vielleicht auch nur einen Gedanken weiter, von dem man nicht weiß, ob er zum Verständnis des Texts beiträgt oder davon wegführt.

"Make it hard to see, to the end" ist eine Zeile aus dem Lied "My body's a zombie for you" des kalifornischen Gruselrockduos "Dead Man's Bones" und dem Vorwort vorangestellt. Ab hier beginnt die Suche nach einem Ende des Handlungsverlaufs, das möglichst mit dem Ende des als Roman titulierten Texts koinzidieren sollte. Müsste. Könnte. Zumindest hat man es in der Schule und bei der Literaturlektüre so gelernt. Kein Ende - auch gut. Oder Gott. Jedenfalls Text. Viel Text.

Am Anfang schuf er noch mehr Text: In den zwölf Seiten des Vorworts schildert der fiktive Autor seinen Schreibfluss, seine auf über 20.000 Seiten anwachsenden handschriftlichen Texte, die er dem Verlag schickt. Und ein erstes Ende: Die Verlegerin ist tot; das Manuskript vernichtet. Es folgt "eine gänzlich andere Geschichte, schließlich und endlich war die vorherige das Ende meiner selbst ..." (Seite 18).

Dann beginnt der Prolog, noch ein Vorwort: In diesem zweiten Anfang schuf Er - nicht der Autor - Himmel und Erde und dazwischen Gotland, ein schauriges Land, an dem die Naturgewalten stets an einen unbarmherzigen, unberechenbaren Schöpfer erinnern.

Michael Stavarič bleibt im Biblischen. Er liest das Buch der Bücher als Entwicklungsroman, formt die biblischen Motive ausdrucksstark um. Das literarische Ich des Romans entsteht im faszinierenden Aufeinanderzulesen von Bibel und kindlichem oder jugendlichem Erleben. Manche alttestamentarische Grausamkeit Gottes, deren Verständnis nicht nur Kinder im Religionsunterricht vor Glaubenszweifel stellt, überträgt der Autor in den Alltag eines Schulkindes: Die Sintflut ergießt sich aus der reichlich vorhandenen und zu sündhafter Verschwendung verführenden Schulmilch. Aus Abrahams fast geopfertem Sohn Isaak wird der geliebte Teddybär, mit dessen Verbrennung die Kindheit beendet werden sollte. Über das Aufwachsen und Großwerden des Erzählers im Umfeld katholischer Schulen wacht mütterlich streng die allein erziehende und streng religiöse Ärztin Greta Hansson.

Im "Buch Charles" beginnt vor der Buchmitte das Erwachsenwerden und Erwachen, dem auch inzestuöse Episoden und ein Entrücken innewohnen. Nach und nach überwiegt der immer wieder in Gedanken, Worten und Werken präsente Protagonist Charles. Wer ist er? "Charles hätte schließlich jeder sein können (...)" (Seite 157). Was hat er getan oder wird er noch tun? Und ist er auch ein Geschöpf Gottes? Aus Gotland, wo ein auserwähltes Volk im Steinbruch schuftet, sind düstere Nachrichten zu vernehmen. Charles wird es aus dem Land im Norden in ein dystopisches Wien führen. Dazwischen finden sich psychologische Gutachten und Beweisfotos über die Ermordung von Dr. Greta Hanson durch ihren Sohn Charles.

"Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein geplagter Geist." (Seite 347) Mit den Worten aus dem für den Karfreitag komponierten "Miserere" von Gregorio Allegri endet der Text. Aus. Aus? Für gläubige Christen folgt der Passion ein Ostern - welches Leben, welcher Text folgt dem Roman? Kann es nach der Apokalypse noch ein Ende geben?

Dem düster Surrealen und mythisch Grotesken hat Michael Stavarič schon in seinen Romanen "Magma" (2008) und "Brenntage" (2011) Wortmale geschaffen; diesmal inspirierte ihn die Bibel. Er verfasste keine humorvolle Parodie, keine übertreibende oder verspottende Nachahmung. Er bietet eine verwirrend neue Lesart der Bibel, eine ironische Übertragung in die Rätsel des Daseins eines verstört aufwachsenden jungen Mannes.

Wo Theologie das Erahnte und Unsagbare konkretisiert, lässt diese Literatur das Sagbare erahnen. Sind die biblischen Erzählungen, die Stavarič in kreativer Leichtigkeit in Kindheitserlebnisse umdeutet, literarische Überlieferung? Ist umgekehrt jede Literatur mit Anklang ans Metaphysische gleichzeitig auch Theologie? Oder ist die Theologie Teil der Literaturtradition? Mit ungehörten Sprachbildern lotet Michael Stavarič augenzwinkernd die Endlichkeit beider Disziplinen aus.

(Wolfgang Moser; 07/2017)


Michael Stavarič: "Gotland"
Luchterhand, 2017. 352 Seiten. 21 Schwarzweißabbildungen.
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