Leïla Slimani: "Dann schlaf auch du"
Das
Kindermädchen
Die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani
hat für ihren Debütroman "Dann schlaf auch du" auf
Anhieb den wichtigsten französischen Literaturpreis erhalten,
den "Prix Goncourt". D er Roman war außerdem über
Monate hinweg die Nummer eins auf den französischen Listen der
meistverkauften Bücher und wurde allein in Frankreich
über eine halbe Million mal verkauft.
Ein würdiger Gewinner des "Prix Goncourt" und großer
Publikumserfolg gleichzeitig, kann das überhaupt sein? Die
Antwort ist ganz einfach: Ja. Und wie das möglich ist.
Leïla Slimani hat es definitiv geschafft, einen Roman zu
schreiben, der literarisch anspruchsvoll, ausgezeichnet komponiert und
fesselnd zu lesen ist.
"Das Baby ist tot. Wenige Sekunden haben genügt. Der
Arzt hat versichert, dass es nicht leiden musste. Man hat es in eine
graue Hülle gelegt und den Reißverschluss
über dem verrenkten Körper zugezogen, der inmitten
der Spielzeuge trieb."
Mit diesen Worten beginnt "Dann schlaf auch du". Man weiß
bereits nach einer Seite, was passiert ist und wer es getan hat. Beide
Kinder von Myriam und Paul sind tot. Das Kindermädchen hat es
getan. Ihr Versuch, sich selbst das Leben zu nehmen, ist gescheitert.
Punkt. Durch die Tatsache, dass alle Fakten auf dem Tisch liegen,
verweigert sich die junge Autorin der Notwendigkeit, Spannung durch
Aufklärung des Geschehens erzeugen zu müssen. Nach
dem ersten Kapitel geht Leïla Slimani zurück zum
Anfang, als das Paar auf der Suche nach einem Kindermädchen
ist.
Paul und Myriam sind ein Vorzeigepaar. Paul ist Musikproduzent, Myriam
Anwältin. Beide stehen vor erfolgreichen Karrieren, als Myriam
schwanger wird. Myriam bleibt nach der Geburt daheim, und kurz, bevor
sie ins Arbeitsleben zurückkehrt, wird sie wieder schwanger.
Einige Zeit nach der Geburt des zweiten Kindes entscheidet das Paar,
dass es nun Zeit ist, ein Kindermädchen zu engagieren, damit
beide an ihren Karrieren arbeiten können. Sie wollen alles
richtig machen, es soll daher unbedingt jemand mit Papieren und
Empfehlungsschreiben sein. Nach einigen Fehlversuchen finden sie
Louise, die nicht nur Myriam und Paul überzeugt, sondern auch
die Kinder. Louise entpuppt sich als Geschenk des Himmels, die Kinder
lieben sie, sie kocht, sie putzt, die Wohnung wird zu einem kleinen
Paradies. Und Myriam und Paul können sich immer mehr ihren
Karrieren widmen. Mit Erfolg. Langsam aber sicher wird Louise zum
unverzichtbaren Teil der Familie. Immer weniger klappt ohne sie. Das
geht so weit, dass sie Louise mit in den Urlaub nehmen. Die Grenzen
zwischen ihrer Tätigkeit als Kindermädchen und ihrer
Rolle als Familienmitglied verschwimmen allmählich. So sehr,
dass alle Differenzen, die nun auftauchen, als unwichtig abgetan
werden. Was auch passiert, die Kinder lieben sie, und ohne Louise
könnten weder Myriam noch Paul das erreichen, was sie
möchten.
"'Meine Nanny ist eine Fee'. Das sagt Myriam, wenn sie
erzählt, wie Louise in ihren Alltag geplatzt ist. Sie musste
über magische Kräfte verfügen, um diese
erdrückende, beengte Wohnung in einen ruhigen, hellen Ort zu
verwandeln. Louise hat die Wände versetzt. Sie hat die
schränke größer, die Schubladen
geräumiger gemacht. Sie hat das Licht hereingelassen."
So übersehen sie die Anzeichen dafür, dass mit Louise
irgendetwas nicht stimmt. Sie machen sich auch nicht die Mühe,
den Ursachen nachzugehen, die hinter diversen Ungereimtheiten stehen.
Leïla Slimani fügt in
unregelmäßigen Abständen Kapitel ein, die
Zeugenaussagen von Personen sind, die Louise kennen oder gekannt haben.
Durch die auktoriale Erzählperspektive der regulären
Kapitel weiß man als Leser natürlich immer mehr, als
die Eltern von Mila und Adam. Das ist, auch wenn man über den
Ausgang des Falls von vornherein Bescheid weiß, ungemein
spannend, weil Slimani nicht an der Oberfläche bleibt, sondern
tief unter der Oberfläche, die das ist, was Paul und Myriam
sehen wollen, sucht und findet. Sie deckt Louises Vergangenheit auf,
ihre Labilität, ihre Tragödie, die sie langsam aber
sicher in eine Psychose treibt, die irgendwann zu einem Ausbruch
führen muss, egal wie sehr Louise die Kinder vielleicht auch
liebt. Als Myriam und Paul endlich verstehen, dass sie nun gezwungen
sind, zu handeln, passiert das Unglück.
"Myriam hockt auf dem Boden und kramt in ihren Schubladen, als das
Telefon klingelt. Louise entschuldigt sich mit kaum hörbarer
Stimme. Sie ist so krank, dass sie es nicht geschafft hat, aufzustehen.
Sie ist wieder eingeschlafen und hat ihr Telefon nicht gehört.
Mindestens zehn Mal sagt sie: 'Es tut mir leid.' Myriam ist etwas
überrumpelt von dieser simplen Erklärung. Sie
schämt sich ein wenig, dass sie daran gar nicht gedacht hat:
Louise war einfach krank. Als wäre Louise unfehlbar, als
könnte ihr Körper nie ermüden oder
Schwäche zeigen."
Leïla Slimanis Figurenzeichnung ist umwerfend präzise
und überzeugend. Es gelingt ihr, Louise, die
natürlich keine typische kindsmordende Psychopathin ist, so
darzustellen, dass man als Leser erfolgreich bemüht ist, ihr
Verständnis und Sympathie entgegenzubringen. Obschon ihre Tat
natürlich unentschuldbar ist. Feinfühlig
lässt sie zwischen den Kindern und Louise zarte Bande
entstehen, die immer stärker werden. Kleinigkeiten, wie
gegenseitiges Decken, unausgesprochene Komplizenschaft und Zuneigung
lassen die zarten Bande zu starken Seilen werden. Während
über all dem nie der Vorsatz des Kommenden angedeutet wird.
Wenn da nicht das erste Kapitel gewesen wäre. Auch Paul und
Myriam sind im wahrsten Sinn des Wortes blendend gezeichnet und
symbolisch für die erfolgreiche Generation von Eltern, die
gerne bereit sind, sich die Kinderbetreuung Geld kosten zu lassen, so
lange sie die Möglichkeit haben genug zu verdienen. Sie
strahlen. Nach außen hin, während sie verbissen um
Anerkennung und Erfolg kämpfen. Ein teuflischer Kreis, aus dem
es, wenn man Erfolg und Familie
haben will, wahrscheinlich kaum
Möglichkeiten zu entkommen gibt.
So begibt sich Slimanis Roman einerseits auf die Suche nach der Schuld,
der Frage, wie konnte das nur passieren? Wäre es
möglich gewesen, Louises Tat zu verhindern, wenn Paul und
Myriam die Symptome richtig gedeutet hätten? Andererseits
handelt es sich um ein augenöffnendes Porträt unserer
Gesellschaft. Einer Gesellschaft, in der nur die wenigsten Menschen
bereit sind, den Problemen ihrer Mitmenschen nachzugehen, einfach weil
sie so mit sich selbst beschäftigt sind, dass sie nur Raum
für sich selbst haben. Die Erkenntnisse, die man hier gewinnt,
sind frappierend und überraschend.
Slimanis Prosa ist kühl, messerscharf und trotzdem bestechend
schön. Was natürlich auch an der kongenialen
Übersetzung von Amelie Thoma liegt. Gern liest man einzelne
Sätze oder Abschnitte mehrmals, einfach weil man wissen
möchte, wie die Autorin es soeben geschafft hat, das zu sagen,
was man zwischen den Zeilen verstanden hat. Ihre Prosa erinnert in
einigen Momenten sogar an jene von Albert
Camus, allerdings nicht wie
eine Nachahmung, sondern wie eine Fortführung in wahrlich
eigenständigem Gewand.
"Man fühlt sich einsam mit Kindern. Sie pfeifen auf
den Zuschnitt unserer Welt. Sie erahnen ihre Härte und
Düsternis, wollen aber nichts davon wissen. Louise redet mit
ihnen, und sie drehen den Kopf weg. Sie hält ihre
Hände, begibt sich auf ihre Augenhöhe, doch sie
schauen schon woandershin, haben etwas gesehen. Sie haben ein Spiel
entdeckt, das ihre Unaufmerksamkeit entschuldigt. Sie tun nicht so,
als
würden sie die Unglücklichen bedauern."
Und nachdem man das Buch erstaunt zugeklappt hat, weiß man,
dass man diesen Roman einfach sofort noch einmal lesen muss.
Franz Kafkas berühmte Aussage, dass ein Buch die Axt
für das gefrorene Meer in uns sein muss, scheint wie
für diesen Roman geschaffen. Das gefrorene Meer, das ist die
Einkapselung in unsere eigenen, ich-bezogenen Welten.
"Dann schlaf auch du" ist so eine Axt. Und ein wahrlich
unvergesslicher, literarisch zutiefst anspruchsvoller, gut lesbarer,
spannender und mitreißender Roman, der lange nach der
Lektüre noch in den Gedanken nachklingt.
Chapeau!
(Roland Freisitzer; 08/2017)
Leïla
Slimani: "Dann schlaf auch du"
(Originaltitel "Chanson douce")
Deutsch von Amelie Thoma.
Luchterhand, 2017. 223 Seiten.
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