Niña Weijers: "Die Konsequenzen"
Freiheit
Selten trifft ein auf der Rückseite des Buches abgedrucktes
Werbezitat so zu, wie jenes von Cees
Nooteboom: "Schreibt man über diesen
Roman, klingt es nach Schwerarbeit. Liest man ihn, ist es ganz leicht.
Also lesen Sie."
Niña Weijers' Debütroman "Die Konsequenzen" ist
einerseits ein Künstlerroman, der sich in erster Linie mit der
extrem dünnen Grenze zwischen dem, was authentisches Schaffen,
und dem, was künstlich hervorgerufen wird,
beschäftigt. Andererseits ist er aber auch so etwas wie ein
Entwicklungsroman, dessen unterschiedliche Entwicklungslinien
letztendlich ihre Kraft aus einer Extremsituation schöpfen.
Dem Beobachtetwerden oder Überwachtwerden. Dass hier
Parallelen zu dem im einundzwanzigsten Jahrhundert über
soziale Medien entstandenen gläsernen Menschen gezogen werden
können, überrascht nicht. Auch wenn Weijers konkrete
Anspielungen in diese Richtung tunlichst vermeidet.
Minnie Panis ist Künstlerin. Ihr Schaffen lässt sich
eigentlich nicht in eine bestimmte Sparte einordnen. Sie macht
Projekte, die unterschiedlicher Art sind und unterschiedliche
Kunstgattungen miteinander verbinden. Symptomatisch ist eine Aussage
von Minnies Mutter, die Minnie bei einem Treffen erzählt, dass
sie neulich über eine amerikanische Künstlerin
gelesen hat, "die farbige Flüssigkeiten schluckt, um
sie danach auf eine Leinwand zu kotzen. Diese Bilder werden
für viel Geld verkauft. Ich verstehe nicht, dass man so etwas
als Kunst bezeichnet. Dass Leute dafür tausende von Dollar
bezahlen." Auch wenn das, was Minnie in ihrer Kunst macht,
ganz anders ist, so sind ihre Projekte für den Laien
wahrscheinlich aus dem gleichen Holz geschnitzt.
Das Element der Überwachung in Minnies Leben führt
bis zu ihrer Geburt zurück. Als Frühchen geboren,
werden bereits ihre Lebensfunktionen in den ersten Tagen streng
überwacht und kontrolliert. Dieses Element führt, auf
ihre Mutter übertragen, wie ein roter Faden durch ihre
Kindheit und Jugend. In Rückblenden erzählt Weijers
auch die Geschichte von Minnies Kindheit. "Manchmal
beobachtete sie das Kind minutenlang, auf der Suche nach einem Defekt.
Sie schnippte mit den Fingern dicht an den Ohren, sie bewegte ein
Plüschtier vor dem Gesicht hin und her. Mit kleinen Rucken des
Kopfs und minimalen Augenbewegungen gab das Kind zu erkennen, dass es
weder taub noch blind war. Das war schon mal was, sagte sich Minnies
Mutter, wenn auch nicht viel."
Minnies Privatleben ist ähnlich gestrickt wie ihre Kunst.
Ihrem Liebsten, einem
"ziemlich zerquältem Künstler, der sich
schon seit zehn Jahren auf dem Markt zu platzieren versucht",
gesteht sie eine Affäre mit einem Fotografen, was das Ende
ihrer Beziehung bedeutet. Dadurch setzt sie Dinge in Bewegung, die
ermöglichen, was im Roman im Mittelpunkt stehen wird. "Drei
Tage kam sie nicht aus dem Bett. Sie hatte etwas verloren, und sie
wusste, es war nicht der zerquälte Künstler."
Eines Tages erfährt sie, dass eine ganze Fotoserie in der
britischen "Vogue" erschienen ist, in der sie unwissend und schlafend
im Bett des Fotografen für ein Kleidungsstück Modell
gelegen ist. Die Serie zeigt sie verletzlich und offen, auch nackt,
freigelegt für alle, die die Fotos betrachten. Erbost
über diesen Eingriff in ihre
Privatsphäre,
nutzt sie die Situation und erklärt in einem Interview, dass
die Idee zu dieser passiven Fotoserie in Wahrheit ihre war und quasi
Teil eines neuen Projekts ist. Sie entwickelt daraus eine noch viel
weiter gehende Idee und nötigt den Fotografen so mehr oder
weniger in die Teilnahme daran. Eine Idee zu einem Projekt, dem sie den
Arbeitstitel
"FREIHEIT"
gibt. Ein notariell beglaubigtes Dokument liefert die genauen
Bedingungen.
"Ab einem von (dem Fotografen) genauer zu bestimmenden Datum im
Februar
wird er der Unterzeichneten, Minnie Panis, an einundzwanzig
aufeinanderfolgenden Tagen mit seiner Kamera folgen. Er wird mit der
größtmöglichen Diskretion vorgehen und
unter keinen Umständen in gleich welche Situation eingreifen.
Keine der beiden Parteien wird während des Zeitraums zwischen
dem 1. Februar und dem 21. März 2012 Kontakt zur anderen
aufnehmen. Die Unterzeichnete wird in diesem Zeitraum Amsterdam nicht
verlassen. Das einzige ihr gestatte Transportmittel ist ein Fahrrad."
Auch die Übergabe der Fotografien ist genau geregelt.
Schweigepflicht, Erstveröffentlichung und Schadenersatz im
Fall eines Vertragsbruchs.
Bei der Durchführung des Projekts geht Minnie auch ein
großes Risiko ein, was dazu führt, dass sie fast
stirbt. Mehr möchte der Rezensent dazu nicht verraten, weil
sonst zu viel dessen preisgegeben würde, was den Reiz dieses
Romans ausmacht. An diesem Punkt schließt sich allerdings der
Kreis zu Minnies Kindheit.
Nicht alles, was in diesem Roman vorkommt, ist schlüssig,
vielleicht auch deshalb, weil gerade jene Art von Kunst, die
Niña Weijers in den Mittelpunkt stellt, für den
Leser einfach zu abstrakt bleibt. Abgesehen davon, dass Minnie Panis
eine, auch wenn einige Ideen an tatsächlich existierende
Kunstschaffende erinnern, erfundene Künstlerin ist, ist auch
diese Kunstrichtung per se so vage und offen, dass man die innere
Notwendigkeit des Schaffens der Künstlerin eigentlich nicht
nachvollziehen kann. Das ist ein Problem, welches Künstler-
oder Musikerromane immer wieder haben, vor allem, weil die Autoren auch
die Kunst oder die Musik, die in ihnen dargestellt werden soll,
erfinden müssen. Selbst der in den Augen des Rezensenten
vielleicht gelungenste Künstlerroman, nämlich Patrick
Whites "Der Maler" (Original "The Vivisector"),
nimmt, auch wenn der Protagonist mehr oder weniger erfunden ist,
höchstwahrscheinlich den Maler Sidney Nolan als Vorlage, was
man als Leser nur deshalb vermuten kann, weil White die Bilder seines
Protagonisten so farbenreich und lebendig zeichnet, dass man sie
förmlich vor sich sieht. Weijers lässt Minnie Panis
zwar ihre Gedanken über andere Künstler loswerden,
wie beispielsweise über die in Ex-Jugoslawien geborene Marina
Abramovic, nur bleibt sie dennoch als Künstlerin für
den Leser unnahbar und fremd.
Minnie selbst ist privat eine ebenso ungreifbare Protagonistin, deren
Entscheidungen und Handlungen dem Leser immer wieder fremd bleiben. In
den Rückblenden in ihre Kindheit
finden sich allerdings auch
hinreichende Spuren und Hinweise, die für ebendiese
Unnahbarkeit mögliche Erklärungen liefern.
Nichtsdestotrotz ist Niña Weijers' "Die Konsequenzen" ein
wirklich ausgezeichneter Roman, dessen Lektüre im besten Sinn
des Wortes Spaß macht. Weijers' Ideen verfügen
über irrsinniges Potenzial und scheitern eigentlich nur dort,
wo auch die Kunst der heutigen Zeit und der Mensch der Gegenwart
scheitern. In gewisser Weise ist dieser Roman auch so etwas wie eine
Sozialstudie über die Kunstszene, die das Seziermesser ansetzt.
Die Übersetzung von Helga van Beuningen ist, wie erwartet,
kongenial und lässt den Leser vergessen, dass er eine
Übersetzung liest.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 08/2016)
Niña
Weijers: "Die Konsequenzen"
(Originaltitel "De consequenties")
Aus
dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Suhrkamp, 2016. 359 Seiten.
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Niña Weijers, geboren 1987 in Nijmegen, studierte Literaturwissenschaften in Amsterdam und Dublin. 2010 gewann sie den Literaturwettbewerb "Write Now!". Für ihren ersten Roman "Die Konsequenzen" wurde sie mit mehreren Preisen, darunter dem renommierten "Anton-Wachter-Preis" (2014), ausgezeichnet.