Evgenij Vodolazkin: "Laurus"


"Ich weiß, dass du in der Hingabe an Ustina deinen Körper kasteist, doch körperliche Entsagung ist nicht alles. Gerade sie kann dich hochmütig machen, mein Freund. (...) Jetzt sollst du dich vollends von dir selbst lossagen." (S. 169)

Zeitlos verzaubernde Geschichte und postmodern-religiöser Lehrroman zugleich?
Spirituelle Eulenspiegeliaden, der lange Weg zu Gott und der Hang zum Altbewährten


Mit "Laurus" hat der 1964 in Kiew geborene Autor Evgenij Vodolazkin einen anspruchsvollen "ahistorischen Roman" (wie er ihn selbst nannte) vorgelegt, der nun auch der deutschsprachigen Leserschaft zugänglich gemacht wurde. Im Mittelpunkt stehen die chronologisch erzählte Lebensgeschichte des Protagonisten Arseni von dessen Geburt bis zu seinem Tod und die Ereignisse in seinem jeweiligen unmittelbaren Umfeld, wobei sich der Text aufgrund der eigenwilligen Gestaltung tendenziell jeder Einordnung entzieht, was dem Ganzen einen besonderen Reiz verleiht.

Im Mittelalter zieht ein Außenseiter durch die Lande - dieses Konzept ist wahrlich nicht neu. Was "Laurus" allerdings von anderen Vertretern des Genres unterscheidet, ist die (stellenweise über-)ambitionierte Vielschichtigkeit, mit welcher der Roman den Leser sowohl verwöhnt als auch herausfordert. Nebenbei bemerkt, ist absolute historische Genauigkeit kein entscheidendes Kriterium, schließlich handelt es sich um kein Sachbuch zum Thema Mittelalter. Überdies besticht "Laurus" durch Einfühlsamkeit und Kenntnisreichtum; der Autor, seines Zeichens Spezialist für Altrussische Literatur, hat eine geradezu berauschende Fülle an Informationen in seine spannende Geschichte eingewebt, vor allem hinsichtlich Theologie und Heilkunde. Erwähnenswert sind auch die nebeneinander auftretenden unterschiedlichen Sprachformen (heutiger Sprachgebrauch trifft auf ältere Versionen), welche der Übersetzerin einiges an Einfallsreichtum abverlangt haben, wie Olga Radetzkaja in ihrem aufschlussreichen Nachwort ausführt.

Das Spiel mit unterschiedlichen Textformen und traditionellen Erzählelementen scheint sich bei Gegenwartsautoren der heutigen Ukraine sowie des heutigen Russlands einiger Beliebtheit zu erfreuen, man denke beispielsweise an Vladimir Sorokins vielstimmigen Roman "Telluria", den ein achtköpfiges Übersetzerkollektiv für die deutschsprachige Leserschaft aufbereitet hat.
Das Konzept von "Laurus" mag nicht jeden Leser auf den ersten Blick ansprechen: Einerseits wird gekonnt in historisch kolorierten Abenteuern geschwelgt, andererseits spart der Autor nicht mit belehrenden Weisheiten, welche die Leseatmosphäre beeinträchtigen und den Leser zur Teilnahme an unfreiwilligen Sprachexperimenten veranlassen könnten. Einige Beispiele: "(...) wo auf dem zukünftigen Platz des Komsomol ..." S. 168), "Betrüblicherweise müssen wir feststellen, dass die Überlebenschancen des Verletzten gegen null gehen, sagte die Äbtissin." (S. 180). Dazu kommt, dass manche Passagen - auch in einem sogenannten ahistorischen Roman - schlicht und ergreifend befremdlich wirken.
Für erklärende Einschübe wie beispielsweise "Im Mittelalter waren Bandwürmer sehr verbreitet." (S. 143) oder "Im Mittelalter war das Geld nicht aus Papier, es ließ sich schwer verstecken." (S. 327) wäre ein über den Dingen schwebender allwissender Erzähler eine ebenso altbewährte wie charmante Möglichkeit gewesen, als spröde Anmerkung nach Sachbuchart mitten im Geschehen wirkt derlei hingegen sonderbar, aber genau so soll es offenbar sein.

"Laurus" ist im russischen Mittelalter (15. und 16. Jahrhundert n. Chr.) verortet, wobei der Autor, wie bereits erwähnt, mit unterschiedlichen Zeitebenen spielt, klar erkennbar an fremden Elementen, wie man sie auch aus Christoph Ransmayrs grandiosem Roman "Die letzte Welt" (erschienen 1988) kennt. Ein Beispiel: "Unter dem Schnee kam sämtlicher Unrat zum Vorschein, den der Wald zu bieten hatte: Laub vom Vorjahr, ausgebleichte Stofffetzen, trübe Plastikflaschen." (S. 79) Dass sich Evgenij Vodolazkin zu diesem Zweck auch gern der hellseherischen Fähigkeiten mancher seiner Figuren bedient, lässt gewisse Schlüsse zu. Betrachtungen zum Wesen der Zeit und der Aufhebung selbiger ziehen sich durch den gesamten Roman, zahlreiche Motive kehren in veränderten Versionen wieder, z.B. die wunderschöne Szene, als sich Arseni selbst im Feuer eines Ofens durch die Zeit sieht.

Gegliedert ist "Laurus" in aus esoterischen wie auch religiösen Schriften bekannter Weise: "Prolegomena", "Buch der Erkenntnis", "Buch der Entsagung", "Buch des Weges", "Buch der Ruhe", innerhalb dieser Abschnitte in lesefreundliche Kurzkapitel.

"Ich, der ich Schuld trage an seinem Tod, bin warm und lebendig. Auch wenn ich nur um deinetwillen überlebt habe: ich habe ihn auf dem Gewissen, genau wie dich. (...) Dabei wusste ich doch, dass Arsenius der Große seine Worte oftmals bereut hat, aber nie sein Schweigen. In Zukunft will ich mit niemandem mehr reden außer mit dir, mein Herz." (S. 152)
Der dies Denkende ist Arseni, der schicksalsgebeutelte Protagonist, der mit seiner im Kindbett verstorbenen Geliebten nur noch in Gedanken sprechen kann. Der Autor hat mit Arseni eine Gestalt erschaffen, der man auffallend unbewegt, mit wissenschaftlich kühlem Interesse, durch die Jahrzehnte folgt. Zu rätselhaft im Metaphysischen bleibt die Motivation des Protagonisten, obwohl zahlreiche innere Monologe vorhanden sind. Themenbereiche wie Schuld, Sühne, Buße und Erlösung werden extrem aufgeladen und ausgeleuchtet. Arseni ist ein unfreiwilliger Held, der Schreckliches erlebt hat, unter Umständen dadurch abgestumpft und sich selbst unwichtig geworden ist, der nur noch lebt, um die Schuld am Tod seiner Geliebten und des gemeinsamen Kindes zu sühnen.

Dabei hat alles so vielversprechend begonnen: Der Knabe Arseni verbringt schon früh viel Zeit mit seinem weisen heilkundigen Großvater Christofor. Nachdem Arsenis Eltern der Pest zum Opfer gefallen sind, bleibt Arseni bei Christofor, der in einem Haus am Rand des Friedhofs bei Rukino wohnt. Von seinem Großvater lernt Arseni viel über Gott und die Welt und legt den Grundstein für sein künftiges Dasein als Heiler. Der verehrte Großvater kann Arseni nur wenige Jahre begleiten; er stirbt bald.
Etwas später beginnt eine kurze glückliche Zeit der Zweisamkeit, als die junge hübsche Ustina bei Arseni Unterschlupf findet und sich die beiden Waisen ineinander verlieben.
Nachdem beider Sohn tot zur Welt gekommen (Arseni hat die Hinzuziehung einer Hebamme verweigert) und Ustina gestorben ist, ohne die Kommunion empfangen zu haben, verbringt Arseni Tage und Nächte voller Schuldbewusstsein und halb wahnsinnig neben den Leichen, bis er von Dorfbewohnern aus seiner Lethargie gerissen wird. Diese traumatischen Ereignisse prägen sein gesamtes weiteres Erdendasein, und ein Besuch des Starez Nikander weist dem Verzweifelten, der mit der Welt abgeschlossen hat, seinen künftigen Weg, Buße zu tun und gewissermaßen für Ustina und das Kind zu leben, Gutes zu tun.
Fortan zieht Arseni ruhelos als Arzt, dessen Ruf ihm bald vorauseilt, durch die Dörfer und lindert das Leiden vieler Pestkranker, bis er von einem Fürsten in dessen Einflussbereich, nach Belosersk, geholt und unter freundlichem Zwang in der Stadt festgehalten wird. Dort bewerkstelligt er die Genesung von Frau und Tochter des Fürsten, rettet auch der alleinstehenden Xenia und deren Sohn Silvester das Leben; beide wachsen ihm ans Herz, was er mit Besorgnis zur Kenntnis nimmt, weil er keine Ablenkung von seiner Berufung dulden kann.
Nach seiner abenteuerlichen "Befreiung", die in einen Raub samt Verletzungen ausartet, aus Belosersk nennt er sich Ustin, spricht nicht mehr (nur noch in Gedanken mit Ustina, der er über die Jahre alles berichtet, was sich zuträgt), distanziert sich von seinem Körper, verachtet ihn geradezu.

Äußerlich verwahrlost, wird er in Pskow vom geheimnisvollen Narren Foma erkannt. Er quartiert sich auf dem Friedhof neben einem Nonnenkloster ein, kümmert sich aufopferungsvoll aber stumm um das Seelenheil, später auch um die körperliche Gesundheit der Einwohner. Manchen gilt der sonderbare Mann als ein Narr in Christo, Anderen als Gottesmann. Seine Fähigkeit, zu heilen, gewinnt an Stärke; Ustin entsagt der Welt und ihren Verlockungen.
Seherische Träume, Telepathie, Visionen und religiöse Fantasien, Wundertaten und Wunderheilungen, allerlei Stadtgeschichten, Prügeleien, Diebstähle, zwei andere Narren, die sogar über Wasser gehen können - ein entsetzlich brutales, detailreiches Wimmelbild quasi, inmitten dessen Ustins Leidensfähigkeit mehrmals hart auf die Probe gestellt wird.
Der weise Narr Foma trägt ihm eines Tages auf, wieder zu sprechen und unter seinem wahren Namen aufzutreten.
Dann taucht die Möglichkeit einer Pilgerreise nach Jerusalem am Horizont auf, doch bevor Arseni diese antritt, etwa in der Mitte des Romans, erscheint eine neue Figur auf der Bildfläche, nämlich der manchmal ein bisschen naseweis wirkende Italiener Ambrogio Flecchia, im Besitz der Gabe der Weissagung (wie auch Arseni, der Menschen ihre Krankheiten und Lebenserwartung ansieht).
Aufgrund einer für ihn sehr interessanten Weltuntergangsprophezeiung begibt sich Ambrogio just nach Pskow, nachdem er praktischerweise von einem Kaufmann Russisch gelernt hat. Eine seiner Visionen (in den Roman sind mehrere davon eingestreut) wirkt übrigens wie eine innerhalb des Ganzen abgekapselte Beziehungskurzgeschichte, sie ist im Jahr 1977 angesiedelt, und wieder taucht das Motiv einer alleinstehenden Frau mit Sohn auf.

Ambrogio und Arseni treten im Auftrag des Stadthauptmanns von Pskow, dessen Tochter ertrunken ist, gemeinsam die lange, entbehrungsreiche Pilgerreise nach Jerusalem an, die sie von Russland über Litauen, Polen und Wien nach Venedig führt (Vodolazkin strapaziert genüsslich einige heutige Länderklischees), wo Arseni ein Mädchen vom Aussatz heilt. Im Verlauf der Reise nach Jerusalem müssen die Beteiligten erneut zahlreichen Gefahren ins Auge sehen. Für etwas Zerstreuung sorgt der geschwätzige Franziskanermönch Bruder Hugo mit seinem bissigen Esel.  Märchenhafte Motive und stimmungsvolle Naturbeschreibungen erschaffen eine stimmige Atmosphäre.
In Venedig schiffen sich die Reisenden ein, und ihre Erlebnisse auf See würden auch "Sindbad, dem Seefahrer" zur Ehre gereichen. Zwischendurch werden die deutschsprechenden Pilger in Kroatien für türkische Spione gehalten und beinahe aufgehängt. Die Reise geht weiter: Kreta, Zypern, Jaffa. Die letzte Etappe wird per Kamel und Esel zurückgelegt, doch abermals überfallen Räuber die Karawane - Arsenis düstere Vorahnungen bestätigen sich, nachdem die Karawane auf einen Mamlukentrupp gestoßen ist. Die miteinander erlebten Schrecknisse und der rege Gedankenaustausch haben Arseni und Ambrogio, die seelenverwandten Männer, zusammengeschweißt und eine besondere Freundschaft zwischen ihnen entstehen lassen, die jedoch ein tragisches Ende findet.

Folglich kehrt Arseni allein nach Pskow zum Stadthauptmann Gawriil zurück, als gerade eine neuerliche Pestepidemie ausbricht, deren Bekämpfung Arsenis Kräfte gleichermaßen fordert wie stärkt. Der inzwischen verstorbene Narr Foma hat Arseni eine letzte Botschaft, die seinen weiteren Weg betrifft, hinterlassen: Das Kirillkloster erwarte ihn.
Von den Erlebnissen in Jerusalem ist stets nur in Rückblicken die Rede. Trotz seiner begnadeten Fähigkeiten und seiner Erfolge als Heiler scheint es, als verschlimmerten sich bei Arseni krankhafte Züge: "Er fing an, sich persönlich schuldig zu fühlen für jeden Tod. Er ging täglich zur Beichte, denn anders hätte er die Last der Schuld nicht tragen können." (S. 335) Und spätestens hier könnte sich mancher Leser spaßeshalber fragen, weshalb Vodolazkin keinen Psychiater ins Mittelalter versetzt hat. Aber der Rückzug ins Kloster ist zumindest ebenso heilsam und vor allem damals wie heute absolut zeitgemäß.

Der Starez Innokenti, der übrigens schweben kann, verkündet Arsenis Mönchsnamen: Amwrossi. Im Kloster versieht Amwrossi zunächst Küchendienst, später ist er als Schreiber tätig und kopiert Manuskripte, während das Volk den nahenden Weltuntergang fürchtet, der dann doch nicht eintritt. Amwrossi, der weiterhin Wundertaten vollbringt, welche die Menschen in Scharen zum Kloster strömen lassen, empfängt schließlich das Große Schema, wird von da an Laurus genannt und verlässt das Kloster (nur mit einem, wie sich herausstellt, niemals schwindenden Brot als Proviant), um fortan als Einsiedler in jener Gegend zu leben, in der er seine Kindheit verbracht hat. Als solcher handelt er weiterhin selbstlos, findet nach Jahrzehnten endlich Ruhe und leistet mit Gottes Hilfe wahre Wunder, bis ein Mädchen, das seine Unschuld verloren hat, bei ihm Unterschlupf findet ...
Der Kreis schließt sich auf beeindruckende Weise, und Arseni-Ustin-Amwrossi-Laurus' Leben vollendet sich, er ist nicht länger "in der Zeit eingesperrt" (S. 392). Aber bis es soweit ist, zieht Evgenij Vodolazkin abermals alle Register seines Könnens.

Evgenij Vodolazkin hat einen sehr ernsten, wuchtigen Roman geschaffen, keine reißerische Dutzendware, sondern erhabene Qualität für aufgeschlossene Genussleser.

(kre; 02/2016)


Evgenij Vodolazkin: "Laurus"
(Originaltitel "Lavr")
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja.
Dörlemann, 2016. 416 Seiten.
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Evgenij Vodolazkin arbeitet seit 1990 in der Abteilung für Altrussische Literatur im Puschkinhaus (Institut für russische Literatur) in St. Petersburg. Er hat zahlreiche akademische Werke und Artikel publiziert. Aufgrund von Forschungsstipendien der "Alfred Toepfer"- und der "Alexander von Humboldt-Stiftung" verbrachte er mehrere Jahre in Deutschland.

Zu einem Kurzinterview mit Evgenij Vodolazkin ...