Christoph Ransmayr: "Cox oder Der Lauf der Zeit"
Die Schrecken des
Zeitempfindens und der Ästhetik
Angesichts der Aufmachung des Romans drängen sich zunächst womöglich die
Fragen auf, was man verlagsseitig vermarktungstechnisch von knallgelben
runden Folienaufklebern mit der Botschaft "Der größte
Gegenwartsautor deutscher Sprache. La Repubblica" (anscheinend die
Autorität für deutschsprachige Gegenwartsliteratur?!) erwartet, und
welchen Wert diese Etikettierung wohl für die zu Recht gespannte
Leserschaft haben könnte? Aber Spaß (und vor allem Aufkleber!) beiseite,
Christoph Ransmayrs Werke sind naturgemäß über derartige Gedanken
erhaben, sie sprechen für sich und benötigen keine Marktschreier.
Wer wäre nicht schon ins Grübeln über das
Wesen
der Zeit verfallen? "Jeder kennt kriechende, dahingleitende,
scheinbar stillstehende Zeiten. Man geht mit virtuellen Ührchen und
Weckern wie ein Christbaum behängt durchs Leben. Und Cox ist der Mann,
der uns den Schmuck verkauft", meinte der Autor im am 25.10.2016
in der österreichischen Wochenzeitschrift "Profil" erschienenen, von
Wolfgang Paterno geführten Interview.
Ein chinesischer Wandteppich habe ihm die erste Inspiration zu diesem
Roman geliefert, verriet Christoph Ransmayr im Rahmen seiner Lesung am
18. November 2016 im "Wiener Konzerthaus": Die Darstellung einer schier
endlosen Karawane, die Uhren transportiert ...
Besagter Cox, Alister Cox, ist die traurige Hauptfigur des Romans,
bedrückt von der Last eines tragischen Schicksals: Seine junge Gattin
Faye ist nach dem Tod der gemeinsamen fünfjährigen Tochter Abigail
verstummt und wie versteinert, Cox deshalb häufig in seine Gedanken und
Erinnerungen versunken und bisweilen regelrecht besessen von
Sehnsüchten. Dass er bald nach seiner Ankunft in Ān, der
Lieblingskonkubine des Kaisers, (der Christoph Ransmayr den Roman
gewidmet hat), eine liebreizende Projektionsfläche für seine Sehnsüchte
und spärlichen Hoffnungen findet, verheimlicht er zwar nach Kräften,
dennoch bringen ihn seine Emotionen in nicht ungefährliche Situationen.
Allerdings überrascht der märchenhafte Züge aufweisende, in siebzehn
Kapitel, die jeweils sowohl einen chinesischen als auch einen deutschen
Titel tragen, gegliederte Roman mit erstaunlich wenig Handlung sowie
quasi Untertemperatur, doch diese kontemplative Kühle kommt wohl nicht
von ungefähr, und nicht nur der Protagonist fröstelt in brenzligen
Momenten, schließlich geht es um alles oder nichts, wenn der allmächtige
"Herr der zehntausend Jahre" bislang ungekannte
Zeitdarstellungsapparate, technische Wunderwerke, die menschliche
Zeitabläufe widerspiegeln, in Auftrag gibt.
Eine kühle Einsamkeit, die nur wenige Interaktionen zulässt, umhüllt
sämtliche Figuren, obschon sich Cox in seltenen Momenten dem Kaiser
seelenverwandt fühlt und dessen Wünsche zu kennen meint. Doch können
derlei vermeintliche Einsichten auch trügerisch sein, wie die
Unendlichkeit der Zeit.
"Der Gang dieser Uhr ..., es ist der Gang dieser Uhr, den ich
höre, wann immer und wo immer es still wird. Es ist der Gang dieser
Uhr, der euch an dieses Ufer geführt hat." (S. 216)
In einem zurückliegenden Jahrhundert, vielleicht dem 18., unternehmen
also der Firmeninhaber Cox und seine wichtigsten Mitarbeiter Jacob
Merlin, Balder Bradshaw und Aram Lockwood die mehrmonatige Schiffsreise
nach China. Die Engländer folgen einer Einladung des Kaisers Qiánlóng.
Sie sind weltweit gefragte und hochbezahlte Meister im Uhren- und
Automatenbau und sollen für den feinsinnigen Herrscher maßgefertigte
Kunstwerke nach Wunsch erschaffen, welche jeweils das unterschiedliche
Zeitempfinden von Menschen in spezifischen Lebenssituationen
darzustellen in der Lage sind, wie der Kaiser Cox nach langer Wartezeit
während einer Audienz verkündet. Es geht also nicht darum, exakte
Zeitmesser, also normale Uhren, zu konstruieren, vielmehr sind kostbare
Apparate gefragt, die sehr spezielle Gegebenheiten abbilden.
Die erste "Uhr", welche der Kaiser in Auftrag gibt, soll das
Zeitempfinden eines Kindes zum Ausdruck bringen. In die Gestaltung
dieser Winduhr legt Cox im Gedenken an seine Tochter sein ganzes Herz,
es entsteht eine prachtvolle Dschunke mit geheimem Innenleben.
Die zweite "Uhr" bildet die Zeitwahrnehmung Todgeweihter ab, sie wird
von Glut betrieben und ist äußerlich einem Abschnitt der Großen Mauer
nachempfunden, weswegen sogar eine ereignisreiche Erkundungsexpedition
unternommen wird.
Als der Kaiser schließlich den Bau einer Uhr für die Ewigkeit, quasi
eines Perpetuum mobile, wünscht, dämmert den Engländern langsam, in
welcher Gefahr sie womöglich schweben. Die besondere Stellung der
Langnasen, ihre mangelnden Sprachkenntnisse, die außergewöhnlichen
Gunstbeweise des Kaisers, die stets unverzüglich erfüllten Forderungen
nach großen Mengen wertvoller Werkstoffe verstören manche Höflinge und
sorgen für Getuschel und böses Blut. Somit entwickelt sich die "Zeitlose
Uhr" für alle zur zunehmend gefährlichen Zeitdehnungsmaschine,
denn ihre Fertigstellung wird bewusst hinausgezögert, als Bedenken
hinsichtlich der Problematik einer funktionierenden Ewigkeitsuhr
aufkommen, die eng mit dem Sicherheitsgefühl der englischen Gäste
verbunden ist, deren Unantastbarkeit und Nützlichkeit mit einem Mal
endlich erscheinen.
Dem Übersetzer und Vermittler Joseph Kiang, einem Han-Chinesen, dem die
Engländer wohl oder übel vertrauen müssen, weil sie auf seine Dienste
angewiesen sind, kommt keine einfache, jedoch eine wichtige Rolle zu,
denn er kennt sowohl die Gepflogenheiten am chinesischen Hof als auch
die Gedankenwelt der Engländer und glättet Wogen, schärft den Gästen
Verhaltensregeln ein, erläutert Eigenheiten und warnt mit wachsender
Intensität vor dem sich hinter den Kulissen zusammenbrauenden Unheil,
sollte die dritte gewünschte "Uhr" tatsächlich fertiggestellt werden.
Man ersinnt also eine intelligente Variante, die es allen Beteiligten
gestattet, das Gesicht zu wahren, und übergibt einen einsatzbereiten
Apparat, dem lediglich noch einige Bestandteile eingesetzt werden
müssen, um das "Perpetuum mobile" ingangzusetzen.
Die Schlusszene, in der sich Kaiser Qiánlóng das erste Mal und allein
mit der auf sein Geheiß verwirklichten "Zeitlosen Uhr" konfrontiert
sieht und eine Entscheidung treffen muss, gestattet ein letztes Mal
tiefe Einblicke in die Weisheit des Herrschers, den mit einem Mal selbst
ein Frösteln ergreift ...
Die Handlung des Romans ist teils in der Verbotenen Stadt angesiedelt,
teils in der Sommerresidenz des Hofes, und manche Motive kennt der
aufmerksame Leser aus dem "Atlas eines ängstlichen Mannes". Der
auffallend viril geschneiderte Roman befasst sich vorrangig mit Männern
und ihren diversen Spielzeugen, zu denen bisweilen auch Frauen zählen,
deren Seelenleben jedoch im Verborgenen bleibt.
Christoph Ransmayr geizt dankenswerterweise nicht mit grandiosen
Naturbeschreibungen, er fängt den Wechsel der Jahreszeiten ebenso
poetisch wie präzise ein, schildert Leben und Sterben, Prunk und Luxus
am kaiserlichen Hof und liefert umfassende Berichte von grauenhaften
Bestrafungen und Hinrichtungsmethoden (wie es sie wohl überall auf dem
Erdball gegeben hat und noch gibt), so werden die Engländer bei ihrer
Ankunft in China Zeugen einer Massenbestrafung, in deren Verlauf den
Verurteilten die Nasen abgeschnitten werden, und das ist keineswegs der
Höhepunkt der Grausamkeiten, denn in jeder Umgebung, wo Wände Ohren
haben und viele Günstlinge auf ihre Chancen warten, wirken sich auch
kleinste Fehltritte fatal aus, dies ebensowenig eine chinesische
Spezialität.
Im Nachwort erklärt und enthüllt Christoph Ransmayr unter dem Titel
"Zuletzt" seine Herangehensweise in Bezug auf die Romanfiguren und die
technischen Wunderwerke, als müsse er sein Kunstwerk verteidigen und
zumindest teilweise aus der Historie herleiten, was doch ein wenig
erstaunt.
"Cox oder Der Lauf der Zeit" ist ein routiniert verfasster, nachdenklich
stimmender Roman, der eine formvollendete Geschichte, technisch
raffinierte Fantasien, exotisches Ambiente sowie Anschauliches über
Herrscher, Machtverhältnisse und menschliche Einsamkeiten bietet.
Christoph Ransmayr entwickelt mit seiner stets unbeirrbar
voranschreitenden ernsthaften Sprache sowie der fiktiven "Zeitreise"
Gegengewichte zu beziehungsweise Spiegelungen von heutiger Hektik
und anmaßendem Größenwahn, indem er zeitlose individuelle Momente
und zeitlose menschliche Eigenschaften von Genies und Regenten vor
dem Leser ausbreitet.
(kre; 11/2016)
Christoph
Ransmayr: "Cox oder Der Lauf der Zeit"
S. Fischer, 2016. 304 Seiten.
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