Cees Nooteboom: "533 Tage"

Berichte von der Insel


Beschauliches und Nachdenkliches

"Es ist sogar die Frage, ob dies hier überhaupt ein Tagebuch ist, vielleicht eher ein Buch über die Tage, um hier und da etwas aus dem Strom dessen zu bewahren, was man denkt, was man liest, was man sieht, ganz sicher kein Buch der Geständnisse." (S. 139)
Der am 31. Juli 1933 in Den Haag geborene Schriftsteller und passionierte Reisende Cornelis Johannes Jacobus Maria Nooteboom verbringt seit dem Jahr 1965, ab späteren Jahren auch mit seiner Frau, der Fotografin Simone Sassen (Jahrgang 1952), vor allem die Sommer auf der Baleareninsel Menorca, bisweilen hält er sich jedoch auch zu anderen Jahreszeiten dort auf. In "533 Tage. Berichte von der Insel", der Originaltitel "533. Een dagenboek" klingt durchaus privater, breitet der begabte Beobachter und ebenso belesene wie routinierte Inwortefasser Cees Nooteboom gekonnt seine Perspektiven vor dem geneigten Leser aus, zelebriert seine Subjektivität auf anschauliche Weise und berichtet von der kleinen und der großen Welt, die schon vor der eigenen menorquinischen Haustür beginnt und bis ins All hinausreicht.

"Achtzig Jahre auf der Welt und keine Ahnung von Kakteen, Spinnen, Schildkröten. Ich werde dumm sterben." (S. 52)
Cees Nooteboom, der langjährige politische Reporter und Reiseschriftsteller, versammelt in diesem Buch zwischen 1. August 2014 und 15. Jänner 2016 entstandene essayistische Impressionen und Skizzen, Definitionen, behutsame Annäherungen, Anekdoten, Lektüreeindrücke und Denkanstöße, Kontemplatives, Lebensweisheiten sowie erheiternd laienhafte Tier- und Pflanzenbeschreibungen. Entstanden sind 80 Abschnitte von unterschiedlicher Länge, in denen Cees Nooteboom sich und seine Welt präsentiert. Während einerseits also seine liebe Mühe mit Gestalten aus dem Reich der Botanik (Kakteen, Sukkulenten, Palmen, Hibiskussträuchern,...) und ortsansässigem Getier (Schildkröten, Möwen, Motten, Spinnen, Geckos,...) aus den Texten spricht und der Autor rätselt, wie der Kenner Humboldt wohl seinerzeit vorgegangen sein mag, behandelt er andererseits kompetent interessante Themen aus seinem angestammten Tätigkeitsbereich, der Kunst, einerseits der Musik (als Liebhaber), andererseits natürlich und vor allem der Literatur.

Beispielsweise befasst er sich mit Canettis Aufbegehren gegen den und Thomas Bernhards Besessenheit vom Tod, beleuchtet u.A. Witold Gombrowiczs und Borges' Schaffen und bietet humorige Einblicke in die Literaturszene vergangener Tage ("'Die Natur langweilt sich zu Tode'. Auch dies ein Satz von Mulisch. So geht es einem mit Toten, die man gekannt hat. Sie reden weiter. Es war auch ein echter Mulisch-Satz. Man brauchte ihm nicht zuzustimmen, das interessierte ihn nicht. Er hatte es gesagt, und es bedeutete etwas." S. 43, 44)
Auch seine Lektüre von Adorno, Joyce, Proust, Montaigne und Frisch hinterlässt Spuren in den "Berichten von der Insel", Nooteboom schmökert erneut in den Tagebüchern von Julien Green, Michel Leiris, André Gide, in Romanen von Miklós Szentkuthy (von diesem "Vielkönner und Alleswoller" ist Nooteboom offenkundig hingerissen, S. 129), von Miklós Banffy und Péter Esterházy, wobei ihm dessen "Harmonia caelestis" sowie die "Verbesserte Ausgabe" Anlass bieten, sich zur ungarischen Sprache und der Historie des Landes zu äußern sowie die Familiengeschichten einiger ungarischer Autoren zu beleuchten.
Nooteboom befasst sich weiters mit Casanova, Dante und dem gelehrten Mönch Myōe.

Trotz gegenteiliger Absicht, blitzen doch stellenweise tagespolitische Ereignisse auf (z.B. Ukraine, "Grexit"), in erster Linie beschäftigt sich der Wortmensch Nooteboom jedoch naturgemäß mit Sprache(n). "Beim Sprechen von Sprachen geht es um Musikalität und Imitation, mehr als um Intelligenz, doch wenn man versucht, einen Dialekt in Gesellschaft der Leute zu imitieren, die ihn sprechen, gerät man in eine soziologische Falle, man rührt an Eigentum. Wer das versucht, geht besser gleich in den Zirkus oder in eine Anstalt, schließlich ist Sprache erworbenes Eigentum, das nimmt man nicht einfach weg." (S. 126)
Zwangsläufig beschäftigt sich Nooteboom auch mit Europa und den tristen Aussichten bezüglich des Projekts "EU" unter besonderer Beachtung der Rolle Deutschlands, mit Flüchtlingen als "zukünftigen Mitbürgern", seine Begeisterung für betagte Raumsonden, deren verbliebenes Bedienungspersonal und den Weltraum an sich kennt anscheinend keine Grenzen, sondern beschert ihm eine ganz spezielle Form von Heimweh. Es geht um Leuchttürme und Friedhöfe, um Mallarmé und das Ableben des Popchamäleons David Bowie, während Nooteboom immer wieder dem deutschen Radiosender "SWR2" lauscht und internationale Zeitungen liest, die er sicherheitshalber davor meistens gut abliegen lässt.

Cees Nooteboom schildert seine einsamen Spaziergänge und beschreibt Überreste früherer Kulturen auf Menorca, die ihn noch nachdenklicher stimmen, berichtet von seinen Erfahrungen als Vielflieger, wofür er sich jedesmal in einen "Massenmenschen" verwandeln muss, von An- und Abreisen per Auto und Fähre als Begleiterscheinungen des Pendelns zwischen den Wohnsitzen, bietet Winterimpressionen vom Aufenthalt in Baden-Württemberg, dazwischen sind immer wieder Kriegserinnerungen eingestreut, vor allem an den Tod des Vaters bei einem englischen Bombenangriff.
Nooteboom betont die Bedeutung von höchstpersönlichen Geheimnissen, erläutert Sternbilder und deren Benennungen, beschreibt sein Studio auf Menorca. Der Leser erfährt von Nootebooms eigenartig verlaufenem Besuch bei Dürrenmatts Witwe (bzw. beim Sessel des verstorbenen Schweizers) wie auch von der unfreiwillig hautnahen Begegnung mit dem französischen Präsidenten Mitterrand. Nooteboom verschweigt auch nicht, dass ihm sein Computer just am "Tag der Hexerei" einen Strich durch die Rechnung machte, während er Jan van Vlijmens "Inferno" hörte ...

Die Lebensumstände auf Menorca sind ebenso Thema (Wind und Wetter, Bodenbeschaffenheit) wie die Bewohner der Insel (darunter die Haushaltsgehilfin Carmen sowie die beiden tüchtigen Gartenhelfer Xec und Mohammed) und Szenen aus deren Brauchtum, wie auch die Geschichte Spaniens immer wieder behandelt wird.
Man liest von bildschönen Schädlingen, rätselhaften Träumen (auch von der Sorge, ungefragt in Träumen anderer Menschen auftreten zu müssen), Möwen wirbeln Erinnerungen an die Kindheit auf, Nooteboom erläutert seine innige Beziehung zu Wörterbüchern und sinniert über die Sterblichkeit von Wörtern. Der Autor scheint, anders als gewisse Kritiker, davon überzeugt zu sein, ihm stehe nach seinen Erlebnissen in Budapest anno 1956, 1968 in Bolivien, 1976 in Teheran und 1989 in Berlin ein gesteigertes Maß an Sinnieren zu (siehe S. 104).

Simone Sassen hat einige der abgedruckten Schwarzweißfotos beigesteuert, denen jeweils großzügig eine ganze Buchseite eingeräumt wurde. "533 Tage. Berichte von der Insel" ist ein in der rundum stimmigen Übersetzung von Helga van Beuningen sehr angenehm zu lesendes, ruhiges Buch, mit dem der lebenserfahrene Autor Cees Nooteboom die Leserschaft auf kultivierte Weise unterhält und Einblicke in seinen Alltag gewährt. Un famoso escritor holandés!

(kre; 09/2016)


Cees Nooteboom: "533 Tage. Berichte von der Insel"
(Originaltitel "533. Een dagenboek")
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Suhrkamp, 2016. 255 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen.
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Zwei weitere Bücher des Autors:

"Die Insel, das Land. Geschichten über Spanien"

"Ich bin wieder angekommen in meinem Sommerdomizil. Die herrenlose Katze hat sich zum Fressen eingefunden, die Palmen sind um einen unsichtbaren Zentimeter gewachsen, da sind die Bücher wieder, die ich vergessen habe, und ich nehme Platz gegenüber der weiß verputzten Natursteinmauer, die mich schon seit fast zwanzig Jahren mit ihrer Leere erregt."
Jedes Jahr im Juli landet Cees Nooteboom auf den Balearen - und bringt von dort Geschichten mit.
Er erzählt von Don Miguel, dem 87 Jahre alten Postboten, von einem Mädchen namens "Schnee" und einem anderen, das "Liebe" heißt. Er betrachtet das Land und dessen Menschen mit Zuneigung, wissend, dass er nur ein Passant ist, einer aber, der sagen kann: "Ich liebe Spanien." (Insel)
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"Reisen zu Hieronymus Bosch. Eine düstere Vorahnung"
Im Frühjahr 2016 beging die Welt den 500. Todestag von Hieronymus Bosch (um 1450-1516). Der "Prado" in Madrid bat zu diesem Anlass Boschs Landsmann, den Schriftsteller Cees Nooteboom, an einer Dokumentation über diesen wohl rätselhaftesten Maler der frühen Neuzeit mitzuwirken. Und so reiste Nooteboom nach Lissabon, Gent, Rotterdam, Madrid und 's-Hertogenbosch, um eine neue Begegnung zu suchen mit dem Meister, mit dem er seit seinen Studententagen vertraut ist. Und der ihm dennoch - wie uns allen - auf immer neue Weise fremd bleiben muss, weil seine surrealen Fantastereien über tierköpfige Menschen und groteske Ungeheuer, die zwischen Hölle und Paradies ihr seltsames Unwesen treiben, Staunen und Verstörung zugleich hervorrufen.
In seinem fulminanten Text schildert Nooteboom seine Annäherungsversuche an sieben Bilder Boschs zwischen persönlicher Reflexion, kunsthistorischer Exegese und Erkenntnissen im Restaurierungsatelier. 60 Abbildungen von Gemälden und Details illustrieren diese ebenso nachdenkliche wie unterhaltsame literarische Reise, die zu einem holländisch-spanischen Gipfeltreffen von Text und Malerei gerät. (Schirmer / Mosel)
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Ein DVD-Tipp:

"Hotel Nooteboom. Eine Bilderreise ins Land der Worte"

Dokumentation und Porträt des niederländischen Schriftstellers anlässlich seines 70. Geburtstags.
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Leseprobe:

(...) Doch warum sage ich Äste? Am ehesten gleichen sie einem Teil des Stamms, der einen Seitenweg eingeschlagen hat. Und Stamm ist möglicherweise ebenfalls nicht das richtige Wort. Ein Kaktus, der sich auch zur Seite hin fortsetzt. Xec, der genauso wenig weiß, wie die Pflanze heißt, behauptet, sie könne sehr groß werden. Ich meine, diese Form schon mal in einer Tequilawerbung gesehen zu haben. Aber vielleicht war es nur das Etikett auf einer Flasche, und der Alkoholnebel hat meinen Blick verschleiert. Dann gibt es noch eine knollenförmige, ziemlich plumpe, in Segmente aufgeteilte Kanonenkugel aus dem Ersten Weltkrieg, mit unendlich vielen Stacheln, so dass die Schildkröten einen Bogen um sie machen. In Segmente aufgeteilt, ist das der richtige Ausdruck? Wie hat Humboldt das gemacht, wie beschreibt man ein Objekt, das grün ist, durch ungefähr vierzehn scharfe Einschnitte seine euklidische Kugelform verloren hat, gefährlich und mächtig dasteht und weiß der Himmel was dadurch klarzumachen versucht, dass die Stacheln, die es überall hat, an seiner Oberseite von tiefkarminroter Farbe sind? Aber, Lektion eins, Stacheln darf ich nicht sagen, so gemein geschliffen sie auch aussehen und so lang sie auch sind. Ein Kaktus hat Dornen. Humboldt achtete natürlich auf Merkmale, Geschlecht, Fortpflanzungsmöglichkeiten, Verwandtschaften. Dafür fehlt mir das Instrumentarium, alles, was ich habe, ist meine prima vista und die Armut meiner Sprache. Denn wenn ich grün sage, was meine ich damit? Wie viele Grüntöne gibt es? Indem ich allein schon meine sechs neuen Kakteen betrachte und ihre Farben benennen will, werde ich zum Meister des Adjektivs.
Wie dem auch sei, ich habe eine kleine Enklave für sie angelegt, die auf der einen Seite von einer uralten Mauer aus aufeinandergeschichteten Steinen begrenzt wird, einer pared seca, und auf der anderen von Steinen derselben Art wie die der Mauer, auf der braunen Erde zur durchlässigen Grenze geformt, die jedoch von den Schildkröten missachtet wird. Sie kommen natürlich nur an die untersten Blätter heran, aber die Wunden, die ihre Bisse verursachen, sind ebenso bizarr wie die Gestalt mancher Pflanzen. Rund um die Kakteen habe ich andere Sukkulenten gepflanzt, die wir im Niederländischen Fettpflanzen nennen, eine von ihnen, Angehörige einer der vielen Aeonium-Arten, hat tiefschwarze, glänzende Blätter, die so wunderbar um einen Mittelpunkt herum angeordnet sind, dass man automatisch an Symmetrie und Harmonie als Sinn und Zweck zu glauben beginnt. Das Schwarz der Blätter ist so intensiv und eigentlich schon wollüstig, dass diese Pflanze der denkbar passendste Schmuck auf dem Grab einer jung verstorbenen Dichterin wäre. Und obwohl ich meine Schildkröten liebe - heute Morgen sah ich, wie das älteste Exemplar, der Patriarch, der schon seit unendlich vielen Jahren die Winter ohne mich überlebt, versuchte, mit seinen Altmännerzähnen die Harmonie dieser mathematischen Symmetrie zu durchbrechen, indem er mit aller Kraft hineinbiss, pervers, eine Entweihung.
Doch wie bestraft man eine Schildkröte, die hier viel ältere Rechte hat als ich? Schildkröten besitzen meines Wissens keine Jahresringe, ich habe also keine Ahnung, wie alt diese ist, und auf Ermahnungen hört sie nicht. Was ich am liebsten täte: mich aus ihrer Perspektive zu betrachten, um zu wissen, wie das aussieht. Eine Art beeindruckend hoher, sich bewegender Turm, der, wenn man ihn nur deutlich genug auffordert, für Wasser sorgen kann. Während der größten Sommerhitze kommt sie manchmal auf die Terrasse und stupst meinen Fuß an. Dann sprühe ich Wasser auf die Steine, und sie leckt sie gemächlich und gründlich ab. Die Steine, die ich im letzten Jahr rund um die Pflanzen gelegt habe, um die unteren Blätter gegen ihre Angriffe zu schützen, hat sie wie ein lebender Bulldozer Millimeter um Millimeter beiseitegeschoben.

Nicht nur über Kakteen, auch über Schildkröten weiß ich wenig, finde aber, dass beide einiges gemeinsam haben, die Widerborstigkeit, den Eigensinn, vielleicht sogar das Material, aus dem sie gemacht sind, alles ist hart und zäh. Schilde und Dornen sind Abwehrmittel, das Bein einer Schildkröte fühlt sich genauso an wie die Haut mancher Kakteen, und meine Schildkröten legen ihre Eier in die Erde, als glaubten sie selbst, Pflanzen zu sein. Sie halten es lange ohne Wasser aus, wissen mich allerdings zu finden, wenn sie doch Durst bekommen. Vielleicht denken sie ja, ich sei Wasser. Das Geheimnis von Kakteen und Wasser muss ich noch lösen, ein Mysterium von zu viel oder zu wenig. (...)

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