Ivo Andrić: "Wesire und Konsuln"
Zeitloses
Meisterwerk
Die Romane von Ivo Andrić, die sich meist im vordergründigen
Bereich des historischen Romans bewegen, sind de facto im historischen
Kontext asylsuchende Parabeln, die sich so der mittlerweile ebenfalls
historischen Gegenwart entziehen. Wenn sich Ivo Andrić, wie in "Wesire
und Konsuln", seinem wahrscheinlich besten und schönsten
Roman, in der napoleonischen Zeit bewegt, dann wird schnell klar, wo
sich die Parallelen zur Entstehungszeit des Romans finden.
Überraschend ist, und das ist ein weiterer
Qualitätsbeweis, wie sehr sich auch Parallelen zur heutigen
Zeit finden lassen. Offensichtlich sind die bewegenden Themen und
Probleme der Menschheit ebenso zeitlos, wie Andrićs literarische Gabe,
dem auch zwischen den Zeilen lesenden Leser den Spiegel vorzuhalten,
der ihn zwingt, zu reflektieren. Literatur auf höchstem
Niveau, erzählerisch brillant und stilistisch unfassbar
präzise und fein gearbeitet. Ein wahrer Lesegenuss weit
abseits von Wohlfühlliteratur oder ichbezogener,
zeitgenössischer Wohlstandsprosa.
Geboren in Travnik, ist bereits die geografische Lage seiner
Geburtsstadt Auslöser für die Begegnung des Orients
und der slawischen Welt in seiner Literatur. Genau das steht im
Mittelpunkt seines im Original in serbokroatischer Sprache verfassten
Romans "Wesire und Konsuln". Der Originaltitel "Travniker Chronik"
lässt darauf schließen, dass es sich um eine mehr
oder weniger sachliche Darstellung eines bestimmten Zeitraums handelt.
Wäre es nur dabei geblieben, wäre dieser Roman
längst in Vergessenheit geraten. Der einzige Aspekt, der
diesem Werk erfreulicherweise einen etwas nüchternen Charakter
verleiht, ist der, dass eigentlich kein subjektiver Erzähler
erkennbar ist. Die Geschehnisse werden wertfrei und fast emotionslos
erzählt, beinahe so, als würden sie von einer
unbeteiligten, gänzlich indifferenten Perspektive aus
beleuchtet. Eine einzige Zugehörigkeit wird dennoch klar,
durch eine Formulierung zu Beginn des Romans lässt sich die
nüchterne und freie Erzählstimme dazu verleiten, die
Zugehörigkeit zu Bosnien zu definieren. Die Stimme ist eine
von "uns" Bosniern, auch wenn sich diese Stimme im restlichen Roman
jeglicher Parteilichkeit enthält.
Die kleine Provinzstadt Travnik ist Schauplatz des Geschehens. Der
"Westen" entsendet zwei Konsuln nach Travnik, um die Lage zu beobachten
und Berichte zu liefern. Napoleons
Abgesandter Daville (inklusive eines
Stellvertreters) und sein österreichischer Rivale mit
Nachfolger umkreisen einander wie die Geier und versuchen sich bei den
jeweiligen Wesiren, es sind insgesamt drei, die in den acht Jahren vom
Osmanischen Reich nach Travnik entsandt werden, in Intrigen gegen den
jeweils Anderen. Sie erstatten ihren Regierungen, die sich einstweilen
auch bekriegen, immer wieder Berichte und sind einander doch viel
näher, als sie das eigentlich sein möchten. Sie sind
so etwas wie durch ihre Position verbundene Brüder, die mit
aller Vehemenz versuchen, ihre Werte und Positionen, die sie
natürlich als Inbegriff einer Art europäischer
Tradition verstehen, zu repräsentieren. Die Art von
Zivilisation, die für beide der Inbegriff von Europa ist.
Ihnen gegenübergestellt sind die jeweiligen Wesire, die ihre
Versetzung nach Travnik, das im Roman als "enge, tiefe
Schlucht" beschrieben wird, als Strafe empfinden. Die Wesire
bemühen sich wiederum, ihre Werte und Positionen zu
verteidigen. Nicht nur gegen die europäischen Konsuln, sondern
auch gegen das immer stärker werdende serbische
Fürstentum, das die
Osmanen ebenfalls vertreiben
möchte. Man braucht definitiv nicht lange zu
überlegen, wie eine moderne Version dieses Romans besetzt
wäre, stellt man sich die EU-Kommissäre,
Muslimvertreter und Staatsfunktionäre vor.
Bezeichnend ist, dass die Honoratioren am Ende glücklich
darüber sind, die ausländischen Beobachter wieder
losgeworden zu sein und weiterhin in ihrer Welt leben zu
können, in der alles so bleibt, wie es immer gewesen ist.
Historisch belegt, aber auch symbolisch für das heutige
Europa, leben in dieser provinziellen Einöde, die alles Andere
als lieblich ist, Katholiken, Orthodoxe, sephardische Juden, "Zigeuner"
und Muslime. Multikulti, als es noch kein politisches Schlagwort war.
Nicht anders als jetzt, fordern die Religionen ihre Opfer, es wird
gefoltert und exekutiert, drangsaliert und gelyncht. Dieses
Verschmelzen der verschiedenen ethnischen und religiösen
Volksgruppen, das ist jenes Bosnien, das Ivo Andrić zeigt. Er hat
Verständnis und deckt gleichzeitig schonungslos die
Problemzonen auf. So ist es nur allzu verständlich, dass
Bosnien bis dato eine Zone des Konflikts geblieben ist,
während der Kampf um die Vorherrschaft immer wieder scheinbar
friedliche Zeiten gefährdet hat und weiterhin
gefährdet. Sein Fazit ist dennoch so zu verstehen, dass
Bosnien per se der Schnittpunkt zwischen Orient und Okzident ist, der
Ort, der weder der einen, noch der anderen Seite allein vorbehalten
sein darf, sondern als Schmelztiegel derjenigen gelten muss, die durch
geografisches Schicksal hier zusammengekommen sind. Ein symbolisches
Bild in der Hoffnung auf eine streitfreie Verständigung der
Völker, die jedem erlaubt, seine Werte und Traditionen
auszuleben.
Ivo Andrićs Figuren sind wunderbar ausgefeilt und brillant
charakterisiert, es ist immer wieder faszinierend, wie
leichtfüßig der Autor mit wenigen Pinselstrichen
eine Figur zum Leben erweckt, sodass man fast meint, die
Protagonistinnen und Protagonisten zu kennen. Egal, ob es sich um die
Konsuln, ihre Dolmetscher oder die vier Ärzte von Travnik
handelt: Keine dieser Persönlichkeiten ist irgendwie
hölzern oder nicht so ausgearbeitet, dass sie in Fleisch und
Blut lebt. Interessanterweise treten bei diesem
naturgemäß ziemlich patriarchalischen Roman auch
äußerst faszinierende Protagonistinnen auf,
über denen jedoch, und das ist allen Frauenfiguren Andrićs
eigen, ein immenser Schleier der Traurigkeit hängt. Auch das
darf man getrost als eine bewusste Interpretation des
gesellschaftlichen Rangs der Frauen sehen. Die Vielschichtigkeit, die
selbst den Nebenfiguren eigen ist, belegt letztendlich wieder, was
für ein großer Erzähler Ivo Andrić war.
Ein Erzähler, der im besten Sinn des Wortes als altmodisch
bezeichnet werden darf. Ohne Hang zu die Handlung weitertreibenden
Dialogen, ohne modische Stilmittel oder schwer verdauliche
Selbstreflexion erzählt er detailliert, nüchtern und
immer am Geschehen interessiert. Prosa, in der man sich
glücklich verlieren kann, die vor allem in der neu
überarbeiteten Ausgabe, die der Zsolnay Verlag hier vorgelegt
hat, einfach in jeder Zeile natürlich überzeugt.
"Wesire und Konsuln" ist ein großer Roman eines
Schriftstellers, der, auch wenn er politisch nicht gänzlich
unumstritten ist, viel zu sagen hatte. Es wäre
wünschenswert, sich auch heutzutage auf diesen Roman zu
besinnen, um das aktuelle Zeitgeschehen besser zu verstehen. Allerdings
ist "Wesire und Konsuln" abseits der politischen Note einfach ein
grandioser Roman, ein zeitloses Meisterwerk.
(Roland Freisitzer; 12/2016)
Ivo
Andrić: "Wesire und Konsuln"
(Originaltitel "Travnicka hronika")
Übersetzt von Hans Thurn, überarbeitet von Katharina
Wolf-Grießhaber.
Mit einem Nachwort von
Karl-Markus Gauß.
Zsolnay, 2016. 654 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen