Ilse Aichinger: "Die größere Hoffnung"

Klangbuch von Anne Bennent, Otto Lechner, Peter Rosmanith


"Wohin geht ihr?"
"Wir gehen spielen!"
"Spielen? Auf den Friedhof? Warum geht ihr nicht in den Stadtpark?"
"In den Stadtpark dürfen wir nicht hinein, nicht einmal außen herum dürfen wir gehen!"
(Ilse Aichinger, "Das vierte Tor")

Am 1. September 1945 veröffentlichte die eben erst gegründete Tageszeitung "Wiener Kurier" einen Text von Ilse Aichinger. Sie nannte ihn "Das vierte Tor". Dieser als erzählerisches Pamphlet geltende Text stellt einen Ausgangspunkt des Romans "Die größere Hoffnung" dar, der sich jener Kinder annimmt, die am Friedhof spielend "den Traum vom Frieden träumten". Jüdischen Kindern war es verboten, im öffentlichen Raum ihren Spieltrieb auszuleben. Eine Ausnahme bildete der neujüdische Friedhof am Gelände des Zentralfriedhofs. Dort trafen sich in den Kriegsjahren die Kinder und träumten von einer besseren Welt.

Der Roman von Ilse Aichinger - übrigens ihr einziger - besticht dadurch, dass er den Kindern eine Stimme gibt. Es sind fast ausschließlich Kinder, deren Welt gezeigt wird. Und die überbordende Fantasie von Kindern bringt es mit sich, dass der Krieg nicht in den Mittelpunkt gerät. Von Gräueln wird nicht berichtet, von den schrecklichen Erfahrungen, die Millionen Menschen machen mussten. Doch es werden Bewältigungsstrategien offenbar, Versuche, dem Wahnsinn etwas entgegenzusetzen. Das ist die Meisterschaft des Romans. Und es ist ebenso die besondere Qualität des Klangbuchs.

Wer eine Bibliothek hat, ist sein Lebtag damit beschäftigt. Bücher zu besitzen bedeutet, auf sie zurückgreifen zu können. Diese geistige Nahrung ist stets griffbereit, kann neu entdeckt werden. Bücher können ihre Farben, ihre Nuancen, ihre Eigenarten verändern, wenn sie immer wieder neu gelesen werden. Die Leser bekommen andere Zugänge, werden in andere Perspektiven hineingeworfen. Nicht anders bei Hörbüchern oder der Spezialität des Klangbuchs. Wie sich Anne Bennent ins Zeug legt, um die Größe des Werks von Ilse Aichinger hörbar zu machen, ist von einer erstaunlichen Meisterschaft. Es ist bemerkenswert, dass der Text dadurch eine Dichte erhält, die sich von Minute zu Minute verstärkt und über den Hörer hinwegfegt. Es ist ein Erlebnis, dieses Klangbuch einzuatmen, dass das Unsagbare ausspricht. Die von der Gesellschaft ausgeschlossenen Kinder fahren in einer Kutsche, die als Leichenwagen dient, und bewegen sich um den Friedhof herum. Sie träumen von Kolumbus und dem lieben Augustin.

Das Mädchen Ellen, die Hauptfigur, bleibt in Wien zurück, während unzählige Jüdinnen und Juden, Kinder und Erwachsene, in Konzentrationslager deportiert und dort zu Millionen zu Tode geschunden oder gleich in den Gaskammern umgebracht werden. Ellen lebt vergessen in der Metropole und muss sich selbst darum kümmern, ihr Leben zu meistern. Sie möchte ins heilige Land, sie stellt sich selbst ein Visum aus, sie muss den Selbstmord ihrer Großmutter verkraften, und sie träumt von einer neu zu errichtenden Brücke, der sie den Namen "Die größere Hoffnung" gibt.

Dieses Klangbuch bewahrt Aufnahmen, die an vielen Orten in Wien, u.a. am Graben, beim Praterstern, in einem Tunnel in Nussdorf, aber auch am Meer und in der Kirche Santa Catarina auf Elba entstanden sind. Dadurch erhält es eine Nuance, die es von gewöhnlichen Hörbüchern unterscheidet. Und es werden Kinderstimmen laut, die Geschichte bekommt dadurch eine beklemmende Authentizität.

Die von Otto Lechner und Peter Rosmanith eingespielte Musik macht das Klangbuch rund, erdig. Die von Anne Bennent ausgewählten Textpassagen in Kombination mit Zwischentönen und musikalischen Feinheiten ergeben unvergessliche Eindrücke, die bei jedem neuerlichen Hören eine veränderte Zusammensetzung, einen anderen Fokus erschaffen können. Der Hörer gestaltet die Geschichte mit, indem er sich seiner eigenen Fantasie ausliefert. Er beginnt selbst zu träumen, in nur schwer erklärbaren Sphären zu schweben. Und ja, es ist wohl so, dass dieses Klangbuch, wie auch schon der glänzende Roman von Ilse Aichinger, Hoffnung macht. Hoffnung darauf, dass die Zuwendung zum Anderen, zum Gegenentwurf des Wahnsinns, das Leben, die Welt, die Menschen in positivem Sinne verwandelt.

Ein Klangbuch, das in keiner Bibliothek fehlen sollte! Das kleine Büchlein, das die Hintergründe des Romans beleuchtet, ist eine wichtige Ergänzung. Und kann dieses Klangbuch gehört werden, ohne den Roman vorher gelesen zu haben? Ja, definitiv! Allerdings kann es nicht schaden, vorab die Lebensgeschichte Ilse Aichingers ein wenig zu studieren. Wie Anne Bennent in einem Interview erzählt hat, scheint Ilse Aichinger dieses ihr zu Ehren geschaffene Klangbuch nicht mehr gehört zu haben. Ilse Aichinger verstarb kurz vor Veröffentlichung des Klangbuchs am 11. November 2016.

(Jürgen Heimlich; 12/2016)


Ilse Aichinger: "Die größere Hoffnung"
Mandelbaum, 2016. Klangbuch 32 Seiten mit 1 CD.
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Noch ein Buchtipp:

Iris Radisch: "Die letzten Dinge. Lebensendgespräche"

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Dieses Buch versammelt achtzehn Interviews mit großen Zeugen unserer Zeit: Amos Oz, Marcel Reich-Ranicki, Günter Grass, Martin Walser, Imre Kertész, Péter Nádas, Ilse Aichinger, Julien Green, Peter Rühmkorf, Antonio Tabucchi, Patrick Modiano, Ruth Klüger, George Tabori, Claude Simon, George Steiner, Sarah Kirsch, Friederike Mayröcker, Michel Butor und Andrej Bitow. (rororo)
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