Martin Suter: "Montecristo"
Riskante
Ränke, rasante Recherchen: Die Finanzwelt außer Rand
und Band!
Nicht zuletzt, weil der 1948 in Zürich geborene
Schriftsteller Martin Suter laut eigener Aussage in einem anno 2012
stattgefundenen Interview mit der "F.A.Z" über einen "populären
Geschmack" verfügt, ist es jedesmal wieder spannend,
womit er sich in seinem jeweils neuesten Buch befasst, welche Figuren
auftauchen und in welchem Milieu die Handlung angesiedelt ist.
Stets am Puls der Zeit, gewandter Schreibstil sowie
verlässliche Recherchen, wie die Danksagungen in den
Büchern stets belegen: Martin Suters Romane garantieren
Lektürevergnügen und erfreuen sich
allergrößter Beliebtheit.
Martin Suter ist bekanntlich ein bedächtiger, routinierter
Erzähler, der seinen Figuren buchstäblich Raum und
Zeit verschreibt, Gestalt anzunehmen, sich und ihre Motivationslage
darzustellen. Man begleitet seine Protagonisten durch ihren
zunächst meist noch recht normalen Alltag und lernt die
Figuren langsam besser kennen, bis sie schlagartig quasi in eine
veränderte Wirklichkeit stolpern oder gestoßen
werden, wo sich interessante Geschichten entwickeln und gelegentlich
schwere Schicksalsschläge ereignen. Auf diese Weise entsteht
ansprechende Unterhaltungsliteratur mit Informationsgehalt, sprachlich
hautnah am Puls der Zeit.
Überdies liebt es Martin Suter, Sinneseindrücke
möglichst umfassend einzufangen; er ist ein detailverliebter
Schriftsteller, der allem Anschein nach nichts dem Zufall
überlässt. Alles ist exakt gewichtet und abgebildet,
das kann man während der Lektüre seiner
Bücher immer wieder feststellen, beispielsweise, wenn es um
die treffende Beschreibung seiner Romanfiguren ("Das
Weiß seiner langen, dichten, im Nacken zu einem Pferdeschwanz
zusammengebundenen Haare war vergilbt und bildete einen starken
Kontrast zu dem aufgedunsenen, hochroten Gesicht. Wie immer seit
seiner
Lebenskatastrophe trug er einen schwarzen, von Asche und Essen
verfleckten Dreiteiler und ein weißes Hemd ohne Krawatte."
S. 57) geht, oder auch um Gebäude,
Einrichtungsgegenstände, Kochrezepte, ...
Mit nur wenigen eingängigen Sätzen skizziert Martin
Suter jeweils Personen und Szenerien, sodass unverzüglich eine
Bilderfolge vor dem inneren Auge des Lesers (mit) zu laufen beginnt.
Womöglich hat sich Martin Suter diese Fähigkeit aus
seiner Zeit als Werbetexter bewahrt.
Des Einen Freud, des Anderen Leid: Der deutsche Literaturkritiker
Ulrich
Greiner greinte in der "ZEIT" am 16.01.2011 unter dem Titel "Platinblond,
navyblau.
Martin Suters erstaunlich gelobte Romane sind erstaunlich
schlecht geschrieben": "(...) Kurz gesagt: Suter
kann nicht schreiben. (...) Warum ist Suter so beliebt? Weil er
für seine Bücher keine Hochsprache oder gar
Literatursprache wählt, sondern die Umgangssprache, die jeder
von uns tagtäglich so dahinredet."
De gustibus non est disputandum! Oder eben: Jedem, der lesen kann, das
Seine! Zeitgenössischen Autoren eine Reduktion auf Hochsprache
oder gar Literatursprache verordnen zu wollen und Umgangssprache
prinzipiell anzuprangern, steht einem Literaturkritiker schlecht zu
Gesicht und legt die Vermutung des innerlichen Stillstands nahe.
Wäre es nicht zumindest eine Überlegung wert, die
Sache auch anders anzudenken, dass nämlich in erster Linie all
jene Zeitgenossen zu kritisieren wären, die im Alltag
tatsächlich unschön sprechen, und diesen Umstand
nicht dem Autor, der diesen Sprachgebrauch übernimmt, um das
von ihm beschriebene Milieu originalgetreu darzustellen, anzukreiden?
Und könnte nicht hinter der Verwendung dieser von Greiner so
genannten "Umgangssprache" in Romanen die Absicht
stecken, ebendieses fadenscheinige Modevokabular z.B. der
Wirtschaftshörigen plakativ bloßzustellen? Man darf
wohl getrost davon ausgehen, dass Martin Suter ganz bewusst eine dem
jeweiligen Milieu und Genre angemessene Gegenwartssprache
glaubwürdig abbildet, wie er auch
zeitgemäße Alltagsgegenstände ganz
selbstverständlich erwähnt, beispielsweise
E-Zigaretten und Smartphones.
"Ich könnte mir vorstellen, dass es Leute gibt, denen
es äußerst unangenehm wäre, wenn das an die
Öffentlichkeit gelangte."
(S. 58)
"Montecristo" ist das langgehegte Filmprojekt der Hauptfigur des
gleichnamigen Romans, des freischaffenden Videojournalisten Jonas
Brand, und nicht von ungefähr denkt man sogleich an Dumas'
"Der Graf von Monte Christo". Wie Martin Suter dem Diogenes Verlag
sagte, wollte "der Protagonist einen Blockbuster drehen und
fand, dass sich ein Film nach dem Muster 'Unschuldiger erfährt
große Ungerechtigkeit und rächt sich' dafür
eignen würde. Es ist ein oft gebrauchtes dramaturgisches
Motiv."
Klischees hin oder her, als Schweizer sind Martin Suter die
Vorgänge und Zustände in der Finanzwelt bestimmt bis
zu einem gewissen Grad vertraut, und sein Roman "Montecristo" vermengt
die Zutaten "Finanzskandale" und "Aufdeckerjournalismus" zu einer
ebenso brisanten wie interessanten Geschichte:
Als der Zug, in dem sich Jonas Brand befindet, aufgrund eines
"Personenschadens" per Notbremsung angehalten wird, ahnt der
unfreiwillige Videojournalist mit Hang zum Kunstfilm, jedoch mit
Aufträgen für Berichte über
Lokaleröffnungen, Prominente bei Premierenfeiern und
dergleichen, noch nicht, dass dies der Auftakt zu einer Reihe
außergewöhnlicher Ereignisse ist, in deren Verlauf
er nicht nur zwei Hundertfranken-Banknoten mit
übereinstimmenden Seriennummern entdecken wird, in seine
Wohnung eingebrochen und er selbst Opfer eines Raubüberfalls
wird. Es geht Schlag auf Schlag, unversehens befindet sich der bislang
recht unspektakulär dahinlebende geschiedene
Enddreißiger mitten in einem Finanzkrimi, und die
polizeilichen Ermittlungen ziehen sich mit lähmender
Ergebnislosigkeit hin. Keine Frage, er muss selbst nach Antworten
suchen, die vermutlich viele Menschen gar nicht hören wollen,
führt also in Eigeninitiative Interviews und recherchiert in
eigener Sache. Im Rahmen seiner Nachforschungen sichtet der anfangs
noch sehr naive Jonas Brand auch sein filmisches Material vom
"Personenschaden" erneut und entdeckt Erstaunliches, erregt jedoch
aufgrund seiner Aktivitäten zunehmend das Interesse
geheimnisvoller verborgener Gegenspieler, und er macht Bekanntschaft
mit "Maulkörben", Zensur und
Einschüchterungsmaßnahmen ...
Nachdem Jonas Brands Nachforschungen einigen Staub aufgewirbelt haben,
erhält er plötzlich das Angebot, "Montecristo" zu
verwirklichen; die Finanzierung sei gesichert. Zufall oder Falle? Ein
vorweihnachtliches Wunder? Sollte sein sechs Jahre lang gehegter Traum
endlich wahr werden? Doch Wunder und gute Feen gibt es leider immer nur
in Märchen. Wem kann Jonas Brand noch trauen, wenn das Ansehen
des Finanzplatzes Schweiz auf dem Spiel steht?
"Es gibt Dinge, die nicht geschehen, weil sie einfach
nicht geschehen dürfen." (S. 294)
Wer im Spekulationsdschungel oder auch nur in dessen Dunstkreis
unvorsichtig oder leichtfertig agiert, wird kurzerhand "beseitigt"; das
verschworene Großkapital schreckt vor keiner
Maßnahme zurück, kann sich keine Fehler leisten und
muss alles dafür tun, dass die riskanten Ränke und
undurchsichtigen Spiele der Öffentlichkeit verborgen bleiben.
Man geht sozusagen über Leichen, und das Netzwerk
hält dicht, vor allem scheint jeder jeden zu kennen und jedem
den einen oder anderen Gefallen zu schulden. Man sitzt in
stürmischen Zeiten im selben Boot und agiert hinter den
Kulissen.
Es kommt zu
Arrangements von Eingeweihten und Mitwissern, Intrigen und
Ablenkungsmanövern, konspirativen Treffen, einer Flucht mit
höchst überraschendem Ausgang, einem scheinbaren
Verrat und einer hoffnungsvollen Versöhnung.
Denn auch eine mit zahlreichen Wendungen aufwartende Liebesgeschichte
ist in "Montecristo" verpackt: Jonas Brand vertraut sich
nämlich der schönen, beruflich erfolgreichen Marina
Ruiz, Tochter eines Filipinos und einer Schweizerin, an und findet in
ihr eine ebenso sinnliche wie praktisch veranlagte Gefährtin
mit Verschwörungsqualitäten ...
Zürich und Umgebung sowie für ein ebenso kurzes wie
brandgefährliches Intermezzo
Thailand sind die Schauplätze der spannenden
Handlung.
Einige Akteure: der Börsenhändler Paolo Contini, der
"Personenschaden" (Unfall? Mord? Selbstmord?); der mit Jonas Brand
befreundete Wirtschaftsjournalist Max Gantmann; Adam Dillier,
glückloser Manager bei "Coromag", jener Druckerei, die u.A.
auch die Währung der Schweiz druckt; Herr Weber,
zunächst noch Jonas Brands Privatkundenberater seiner Bank;
William Just, CEO der "GCBS", der größten Bank der
Schweiz; ein Rothaariger mit Igelfrisur, gewissermaßen der
Mann fürs Grobe; die kroatische Putzfrau namens Knezevic;
Pedro Birrer, der den Verlockungen nicht widerstehen kann und
dafür den höchsten Preis bezahlen muss; Oskar
Trebler, Spezialist im Banknotendruck; Herr Kägi, ein
auffallend zurückhaltender Bankfachmann; Jack Heinzmann,
ebenfalls Bankfachmann; Barbara Contini, die Witwe Paolo Continis,
keineswegs vom Selbstmord ihres Mannes überzeugt; Konrad
Stimmler, Präsident der Schweizerischen Bankenaufsicht; Hans
Bühler, Chef des "Trading
Floors"; Jeff Rebstyn, Filmproduzent und Chef einer
Produktionsgesellschaft; Lili Eck, bestens vernetzte
Produktionsassistentin; Heiner Stepler, Fernsehchefredakteur; Lukas
Gobler, der Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung;
Hanspeter Anderfeld, der Präsident der Schweizerischen
Nationalbank.
Außerdem erfährt man, welche Bewandtnis es mit den
"Lilien"
hat ...
Garniert wird die packende Geschichte mit eingestreuten
Lebensweisheiten wie z.B. diesen: "(...) er hatte bald die
Erfahrung gemacht, dass miteinander kochen mehr Vertrautheit
voraussetzte als miteinander schlafen.", "Wenn es
alle machen, ist es obligatorisch".
Auch diesen Roman hat Martin Suter seinem anno 2009 im Alter von drei
Jahren in Zürich beim Mittagessen an einem Stück
Wurst erstickten Adoptivsohn Antonio (Toni), der aus Guatemala stammte,
gewidmet.
(kre; 03/2015)
Martin
Suter: "Montecristo"
Diogenes, 2015. 320 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen
Noch
ein Buchtipp:
Mathias Binswanger: "Geld aus dem Nichts. Wie Banken Wachstum
ermöglichen und Krisen verursachen"
Die jüngste Finanzkrise
hat deutlich gemacht, dass Banken und ihre Kreditvergabe in heutigen
Wirtschaften
eine entscheidende Rolle spielen. Allerdings sehen die
meisten Menschen bis heute nicht, wie diese Kreditvergabe mit der
Geldschöpfung zusammenhängt. Und solange wir das
nicht begreifen, können wir auch das Funktionieren einer
modernen Wirtschaft nicht verstehen.
In seinem Buch beschäftigt sich Mathias Binswanger mit den
Banken als Geldproduzenten: Sie leihen nicht Geld aus, welches vorher
jemand bei ihnen deponiert hat, sondern sie schaffen neues Geld durch
Kreditvergabe. Dank der Fähigkeit der Geldschöpfung
ermöglichen Banken Wachstum, indem Investitionen finanziert
werden können, ohne dass vorher gespart wird. Der Autor zeigt
aber auch die Schattenseiten des Prozesses: Ein Großteil des
von den Banken geschaffenen Geldes wird in einer modernen Wirtschaft
für den Kauf von Wertpapieren oder anderen
Vermögenswerten verwendet, was zu spekulativen Blasen und
Finanzkrisen führt. Die Zentralbanken, die eigentlich den
Prozess der Geldschöpfung kontrollieren sollen, sind
allerdings seit der letzten Finanzkrise kaum mehr in der Lage dazu.
Dies wirft die Frage nach Reformen auf.
Das Buch ist für jeden geeignet, der wissen möchte,
wie Geld
geschaffen wird, welche Bedeutung dieser Prozess in einer modernen
Wirtschaft besitzt und welche Probleme er verursacht. Verschiedentlich
wird an Kontroversen in der ökonomischen Theorie
angeknüpft, die aber allgemeinverständlich
dargestellt sind. Das Buch ist gleichzeitig unterhaltsam und sachlich
fundiert. (Wiley-VCH)
Buch bei amazon.de bestellen